Mittwoch, 27. Dezember 2006

Das Undenkbare im Islam

Die Wagemutigen der Renaissance okkupierten das Diesseits für sich, stellten das Individuum in die Mitte der Welt und postulierten einen neuen Begriff der Würde des Menschen, die darin bestünde, sich Freiheit zu erkämpfen und zu leben. Dies ist 500 Jahre her. Die Freiheit, »ich« zu sagen, ist im Islam bis heute nicht zu finden.

Empörung im Vatikan des Jahres 1486: der gerade 23-jährige Giovanni Pico della Mirandola veröffentlicht 900 theologische und philosophische Thesen, die er im Rahmen einer öffentlichen Disputation ausgerechnet am Sitz des Papstes zu verteidigen gedenkt. Innozenz VIII fühlt sich herausgefordert; zu Recht, wie sogleich zu belegen sein wird. Er verbietet erst die Disputation, dann die Thesen in toto. Pico flieht von Rom nach Frankreich, wo er aufgrund des päpstlichen Haftbefehls dennoch aufgegriffen und eingekerkert wird.

In Picos »Oratio de hominis dignitate«, der »Rede über die Würde des Menschen«, die als Auftakt zur verbotenen Disputation angelegt ist, findet sich komprimiert seine Antwort auf die in der Renaissance neu gestellte Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Stel
lung bezüglich Gott und der Welt. Pico leitet ein mit der Verunsicherung, »warum der Mensch das am meisten gesegnete und daher ein jeder Bewunderung würdiges Lebewesen ist«. Die antiken und mosaischen Religionen geben ihm keine befriedigende Antwort. Der Mensch als »König über die niedrigen Wesen«, nur »Deuter der Natur«, allenfalls »mit den Göttern vertraut«, dies ist ihm nicht genug. So fängt Pico über die Schöpfungsgeschichte zu spekulieren an; er selbst schöpft diese Geschichte neu.

Warum wurde der Mensch geschaffen? Gott habe nach seinem Schöpfungswerk noch jemanden benötigt, »der die Gesetzmäßigkeit eines so großen Werkes genau erwöge, seine Schönheit liebte und seine Größe bewundere«. Dazu also hat Gott den Menschen geschaffen, als jemanden, dem so außergewöhnlicher Verstand und so großes Bewusstsein eignet, dass er die Schöpfung zu durchdringen, zu erwägen und zu würdigen vermag. Der Mensch als Erkennender, sein Urteil als entscheidende Instanz. Kraft seines Denkens erhebt sich der Mensch zu Gott.


Pico treibt die Vergottung des Menschen noch weiter: »Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam«, so maßt sich Pico an, dem Schöpfer in den Mund zu legen, »kein eigenes Aussehen noch irgend eine besondere Gabe, damit Du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss habest und besitzest.« Während die Natur alles Übrige durch vorgeschriebene Gesetzte beschränkt, soll der Mensch – dies macht ihn erst recht eigentlich zum Menschen – »ohne jede Einschränkung und Enge«, sich selbst nach seinem Ermessen, nach seinem Wunsch und Entschluss bestimmen. Diese gottgleiche Freiheit ist als schöpferische gemeint; was auf Erden geschieht, ist nicht Schicksal, ist nicht von Gott bestimmt, sondern ist hernach Werk des Menschen allein. Ihm nur, dies ist die unerhörte Botschaft Picos, obliegt die Gestaltung alles Irdischen. Der Mensch ist als Erkennender und auch als Schöpfer gottgleich.


Aus dieser unbegrenzten Freiheit erwächst eine unbegrenzte Verantwortung. Pico weiß um diese Dialektik, sein Optimismus angesichts des »Chamäleons« Mensch hält Maß. Er lässt Gott sagen: »Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigen, zum Tierischen entarten. Du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele dies beschließt.«


Dieses Plädoyer für die Freiheit des Willens ist zugleich eines für die Annahme der damit verbundenen Verantwortung: Die Würde des Menschen ist nichts Gegebenes; sie wird erst im eigenen Tun entwickelt. Immanuel Kant wird später von der Anomalie der Freiheit sprechen: Blickt man zurück, um die Gründe eines Handelns zu erfassen, so erkennt man zwar kaum Freiheit, sondern vor allem Kausalität. Freiheit scheint einem zu entgleiten, wenn man sie retrospektiv erkennen will. Blickt man aber nach vorn, schickt man sich also an, etwas überhaupt erst zu tun, so kann man nicht umhin, sich frei zu fühlen. Handeln setzt Freiheit notwendig voraus. Und aus dieser Freiheit erwächst auch die Verantwortung, sein Handeln menschenwürdig auszurichten. Die Würde des Menschen aber besteht genau darin, so schon Pico, die »vielerlei Samen und Keime«, die für eine jede Lebensform im Menschen schon angelegt sind, selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu wählen, zu pflegen und Früchte tragen zu lassen.


So befreit sich die Vernunft gleich doppelt: von Gott und von der Natur. Nicht mehr ist der Mensch durch göttlichen Willen determiniert, er selbst ist Erkennender und Schöpfer. Und er ist auch nicht durch die Natur determiniert, er ist ihr nicht ausgeliefert, sondern formt sie, mit aller Konsequenz. Immer wieder flammt dieser Streit auf, ob zwischen Rationalisten und Empiristen Mitte des 18. Jahrhunderts oder in der jüngsten Debatte um die physiologische Determiniertheit des Psychischen mithin um die Existenz eines freien Willens. Doch mit Pico wird ein Denken in Freiheit von Gott und Naturbedingtheit als Möglichkeit unhintergehbar.


Pico findet sich mit derlei Thesen also aus guten Gründen im Kerker von Vincennes wieder. Dem Einzelnen, da er gegen vermeintliche Windmühlen anreitet, wird Wahn unterstellt. Diese Unterstellung wird obsolet, finden sich Menschen, die dem Einzelnen beistehen. Idealisten brauchen die Mutigen und Vermögenden, die sie stützen, sonst enden sie tragisch. Es sind ausgerechnet die Theologen der Sorbonne, die sich weigern, dem Wunsch des Papstes gemäß Pico wegen Häresie zu verurteilen. Durch Fürsprache mächtiger Gönner wird er aus der Haft entlassen. Er findet immer mehr Beistand, Lorenzo de Medici protegiert ihn, er kann nach Italien zurückkehren, ein paar Jahre später wird selbst seine Exkommunikation wieder aufgehoben. Die Ideen Picos entfalten sich, sind lang schon nicht mehr einzusperren.


Damit befreit sich das Individuum von den schlimmsten Fesseln der Religion, ohne doch gleich den Glauben ganz abzutun. Picos These, konstitutiv für die Menschwürde wäre die Freiheit, mit der der Mensch als einziges Geschöpf von Gott ausgestattet worden ist, so dass der Mensch sein kann, was er will, ist die Revolte gegen die Religion in der Religion. Bevor der Glaube überhaupt in Frage gestellt werden kann, wird Gott ins Jenseits expediert; die Zentralbegriffe der Moderne vom freien Willen und von der schöpferischen Potenz des Menschen werden noch in der Religion selbst entwickelt, bevor die Freiheit, ganz ohne Glauben auszukommen, überhaupt möglich wird.


Das Undenkbare im Christentum wurde vor mehr als 500 Jahren zuerst von Christen selbst gedacht, formuliert und erfochten. Das Undenkbare im Islam, es wird schon gedacht. Man kann es lesen, in den Blogs Teheraner Studenten oder in den Büchern derer, die im Westen ein Exil fanden. Auch diese Idealisten brauchen die Mutigen und Vermögenden, die sie stützen, sollen sie nicht tragisch enden. Wenn aber im Westen aus Opportunismus vor dem Feind, aus Geschichtsvergessenheit oder Kulturrelativismus nicht erinnert wird, wie hier die Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit überhaupt erst erkämpft wurden, so wundert es kaum, wenn islamkritische Dissidenten auch hier zuförderst als Querulanten gelten. Sie und ihre Ideen aber sind nicht nur die Hoffnung für die Menschen in den islamischen Regimes. Sie sind eine Hoffnung für den Westen, wird er doch von ihnen an den Wert und die Fragilität der Freiheit erinnert. Denn auch hier ist das selbstverständlich Scheinende längst umstritten.


Giovanni Pico della Mirandola:
De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen
Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1990