Als hätte man nur auf einen Anlass gewartet: Jetzt, da nicht mehr nur eine, sondern gleich zwei Terrororganisationen die palästinensischen Gebiete regieren, erodieren die letzten Grundsätze einer europäischen Nahostpolitik, der Israel aus falscher Hoffnung vertraute. Selbst das Existenzrecht des jüdischen Staates scheint inzwischen verhandelbar. Und weil Kritik daran nicht goutiert wird, mühen sich auch noch die letzten Parvenüs, eine solche zu denunzieren.
Die Europäische Union, die sich dieser Tage in Berlin ausgiebig gefeiert hat, würde ob der Bildung der neuen palästinensischen Einheitsregierung wohl am liebsten noch ein paar Fläschchen Rotkäppchensekt köpfen. Allein, die neuen ›Partner‹ aus Gaza und Ramallah sind dem Alkohol zumeist nicht gar so zugeneigt. Doch gäbe es Grund genug für sie zur Festivität: Der Nahost-Gesandte der EU, Marc Otte, machte dem neuen palästinensischen Außenminister Siad Abu Amr im Westjordanland bereits seine Aufwartung; die deutsche Bundeskanzlerin und amtierende EU-Ratsvorsitzende Angela Merkel telefonierte mit Palästinenser-Präsident Abbas, um neue ›Chancen‹ bezüglich der ›Regierung der nationalen Einheit‹ zu sondieren; Paris, Wien und Berlin haben bereits Einladungen an einzelne Regierungsmitglieder der Palästinenser ausgesprochen, und Großbritannien führt seit je offizielle Gespräche mit der Fatah und inoffizielle mit der Hamas.
Norwegen spielt, obwohl nicht EU-Mitglied, den gesamteuropäischen Vorreiter und kündigt ein vollständiges Ende seines politischen und wirtschaftlichen Boykotts an. Der Staatssekretär im Außenministerium, Raymond Johansen, traf bereits in Gaza mit dem palästinensischen Regierungschef Ismail Haniyeh von der Hamas zusammen. Auch die EU selbst sieht neben Kontakten »zu gemäßigten Ministern« die Möglichkeit, dass Gelder wieder direkt an die Palästinenser fließen. »Sie haben große Anstrengungen unternommen«, zitierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe einen Spitzendiplomaten im Auswärtigen Amt: »Es wäre fatal, wenn wir Europäer jetzt ›April, April‹ sagen würden.« Diese »großen Anstrengungen« der Palästinenser beziehen sich aber mitnichten auf eine Deeskalation gegenüber Israel. Die verfeindeten Terrorbanden haben einfach nur aufgehört, sich gegenseitig abzuknallen. Die Einheitsregierung, die de facto die Einheit der Palästinenser gegen Israel beschwört, soll nun eben dafür belohnt werden. Der palästinensische Finanzminister Salam Fajjad fängt EU-Angaben zufolge bereits an, mit der Europäischen Union über die ›Wiederaufnahme‹ finanzieller Hilfen zu verhandeln. Diese Behauptung, es würde sich tatsächlich um eine ›Wiederaufnahme‹ handeln, ist jedoch völlig widersinnig, denn trotz eines angeblichen Boykotts hat die EU ihre Hilfen an die Palästinenser allein im vergangenen Jahr von zuvor 500 Millionen Euro auf 700 Millionen Euro gesteigert. Es wird also allenfalls über eine abermalige Steigerung der Zuwendungen sowie über die unmittelbare Einzahlung auf die Konten der palästinensischen Regierung zu reden sein.
Die auflagenstärkste israelische Tageszeitung Yediot Ahronot gibt sich aus guten Gründen resigniert: »Die diplomatischen Bemühungen Israels sind gescheitert ... der Boykott der Palästinenser ist zu Ende.«
Auch die Amerikaner geben ihre ganz harte Linie auf: Sie wollen zwar die Sanktionen noch aufrecht erhalten, entgegen der Position Israels aber doch Kontakte zu einzelnen Kabinettsmitgliedern, die nicht der Hamas angehören, erlauben. Wenigstens beharren die USA weiter auf den Bedingungen des Nahostquartetts; Sicherheitsberater Stephen Hadley bekräftigte gegenüber CNN, dass Verhandlungen mit der neuen palästinensischen Regierung von Hamas-Ministerpräsident Haniyeh immer noch ausgeschlossen seinen. Es gelten weiter die Vorbedingungen: Anerkennung Israels, Verzicht auf Terrorismus und Gewalt, Einhaltung bereits geschlossener Vereinbarungen.
Das allerdings wird in Deutschland in Regierung und Opposition kritisiert. Heidemarie-Wieczorek-Zeul (SPD) hat bereits im Vorfeld ihres geplanten Treffens mit dem neuen palästinensischen Finanzminister in Berlin festgestellt, dass die alten Leitlinien des Nahostquartetts für die Deutschen nicht mehr gelten, denn »das dürfen keine Vorbedingungen für uns sein, überhaupt in Gespräche einzutreten. Es sind Forderungen und Ziele, die gerade mit dem Dialog erreicht werden sollen.« [1] Noch deutlicher wird die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Kerstin Müller, die sich dagegen wendet, dass »das Quartett immer nur die alten Positionen bekräftigt«. Und sie folgert: »Es setzt sich hier immer wieder ja die amerikanische Position durch, die dabei bleibt: Israel anerkennen, Gewaltverzicht, internationale Verträge respektieren. Ich glaube, dass das strikte Bestehen auf die Quartettbedingungen inzwischen kontraproduktiv für eine Bewegung im Friedensprozess ist.« Müller fordert vom Quartett, »eher Druck auf Israel ausüben«. [2]
In einer Anfrage an ihr Büro, ob sie denn angesichts ihrer Ablehnung der bisherigen Vorbedingungen des Quartetts eine bessere Lösung kenne, »die Israels Sicherheit garantiert und im Gazastreifen sowie in der West Bank demokratische Verhältnisse herstellt«, antwortet ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Arne Behrensen:
»Die von Ihnen angeführte Stelle aus Frau Müllers D-Radio-Interview bezieht sich auf das ›strikte‹ Bestehen auf den Quartettbedingungen als Vorraussetzung für eine internationale Zusammenarbeit mit der neuen palästinensischen Regierung. Seien Sie sicher, dass Frau Müller an einer schnellstmöglichen Erfüllung der Quartettbedingungen sehr wohl gelegen ist. Doch realistisch gesehen kann dies nur in einem Verhandlungsprozess, also im politischen Dialog geschehen. Die neue palästinensische Regierung muss deswegen als Dialogpartner anerkannt werden und vor allem an ihren Taten (Durchsetzung und Einhaltung eines effektiven Waffenstillstands und Freilassung von Shalit im Rahmen eines Gefangenenaustausch) gemessen werden, auch wenn die Akzeptanz von Hamas-Ministern für niemanden eine schöne Vorstellung ist. Als Alternative droht jedoch ein erneuter Rückfall in den innerpalästinensischen Bürgerkrieg und eine weitere Steigerung des iranischen Einfluss. Das kann erst recht nicht in Israels Interesse sein.«
Dieser wissenschaftliche Mitarbeiter fordert also, ganz seiner Dienstherrin folgend, die Anerkennung der neuen palästinensischen Regierung, die Akzeptanz von Hamas-Ministern sowie den Verzicht auf die bislang gültigen Vorbedingungen für Verhandlungen. Er hält insbesondere die Anerkennung des Existenzrechts Israels für disponibel. Und, wie all diese deutschen ›Nahost-Experten‹, glaubt er recht genau zu wissen, was in Israels Interesse sei und was nicht.
Interessant an Behrensen ist nicht nur, dass er das Lied seiner Herrin singt – was einem so aufstrebenden Jungakademiker in der deutschen Politiklandschaft wohl zugestanden werden muss –, sondern dass er sich auch außerhalb der Bundestags-Büroräume politisch entsprechend betätigt. Das aber steht nicht im Dienstvertrag. Will man Israel am effektivsten in die Parade fahren, so tut man dies, so viel hat der junge Behrensen bereits gelernt, auch ›zivilgesellschaftlich‹ als vorgeblicher ›Freund Israels‹. Die Karriere des Politikwissenschaftlers führte folgerichtig als Freiwilliger der Aktion Sühnezeichen über das Berliner Büro des American Jewish Committee schließlich in den Bundestag; er war zuvor als Autor der Jungle World ebenso tätig wie als Aktivist des Berliner Bündnisses gegen Antisemitismus und Antizionismus, später nur noch des Bündnisses gegen Antisemitismus, so als wäre der Antizionismus nicht mehr der ausdrücklichen Erwähnung wert.
Behrensen betätigte sich 2002 als Mitorganisator einer Kundgebung vor der SPD-Zentrale in Berlin, da Kanzler Schröder ausgerechnet am 8. Mai mit Martin Walser über Nation und Patriotismus öffentlich zu räsonieren gedachte. Doch der Protest sollte für den Veranstalter keineswegs karriereschädlich wirken; Behrensen sprach im Vorfeld bei der Parteizentrale vor, damit sein Engagement ja nicht falsch verstanden würde. Selbst die kleinste Rebellion gerät so gänzlich konformistisch.
Ferner ist Arne Behrensen Mitorganisator der jährlichen Berliner Kleinstdemonstration gegen den internationalen Al Quds-Tag, und er schafft es hier, die üblichen B-Promis von Lea Rosh über Claudia Roth bis hin zu Eberhard Seidel vom »Kinder-Stürmer« taz (Henryk M. Broder) zusammenzubringen, um kund zu tun, man habe zwar »unterschiedliche Meinungen zu dem andauernden Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern«, trete aber gemeinsam »für eine friedliche und für beide Seiten akzeptable Zweistaatenlösung ein«, um gerade in diesem Zusammenhang ausdrücklich »jede Diskriminierung von Menschen muslimischen Glaubens oder migrantischen Hintergrunds« abzulehnen. Das iranische Regime instrumentalisiere »schamlos den israelisch-palästinensischen Konflikt zu Lasten auch der Palästinenserinnen und Palästinenser«, während bei den sich so Kundgebenden von Israel nur als nationaler Entität, nicht aber im Sinne sehr konkret bedrohter Menschen die Rede ist. [3]
Derlei simulierter Betriebsamkeit, mittels welcher ein breites Bündnis gesucht wird, geht es mitnichten darum, Israel ernsthaft zu unterstützen. Es wird auf den großen gesellschaftlichen Konsens abgezielt, statt genau diesen auf Grundlage der allbekannten empirischen Fakten zu kritisieren. Eben darum auch wird jede Deutlichkeit der politischen Aussage solange gedämpft, bis das gesamte Milieu der ›Israelkritiker‹ für eine zur hohlen Geste verkommene Veranstaltung eingemeindet werden kann. Eine solche Veranstaltung erfüllt ihren Zweck dann genau darin, zur Dienstleistung am teilnehmenden ›Israelkritiker‹ zu werden. Mit dem guten Gefühl, sich als ›Freund Israels‹ nun hinlänglich ausgewiesen zu haben, lässt sich fürderhin moralisch legitimiert gegen jene zu Felde ziehen, die nicht aus taktischen Erwägungen, sondern aus grundsätzlicher Parteinahme gegen den Neuen Antisemitismus und den darin enthaltenen eliminatorischen Antizionismus auftreten.
Nur ein Beispiel: Unterstützte Eberhard Seidel von der taz im Oktober 2006 die letzte Demonstration gegen den Al Quds-Tag, so tat er dies im besten Glauben, sich in keinem Widerspruch zu seinem im gleichen Monat erschienenen Artikel über »Gesundes Volksempfinden« zu befinden: Dort schloss er »Feuilleton, Bürger und Rechtsextreme« kurz, die sich im gemeinsamen »Widerstand gegen die islamische Landnahme in Deutschland« befänden, wobei er »den Welt-Autor und niederländischen Schriftsteller Leon de Winter« als »Rassisten« denunzierte und Henryk M. Broder, der »heute noch mangelnden Widerstand gegenüber Islam und Islamismus beklagt«, unterstellte, er habe »schlicht die Entwicklungen der letzten Jahre verschlafen«, denn genau seine »Stichworte werden längst von rechtsgerichteten Organisationen« wie beispielsweise der NPD aufgegriffen. Seidel resümierte: »Ein ganzes Volk ist vereint im antiislamischen Widerstand.« [4] Ein halbes Jahr später widerspricht er abermals der These vom »islamischen Antisemitismus«; dieser Judenhass speise sich eben »nicht aus religiösen Quellen, sondern ist ein modernes Phänomen«. So sind nicht die Mullahs, so ist wieder einmal nur die Moderne an allem schuld. Seidel hat von Dialektik nicht die geringste Ahnung und ist auch sonst ein anständiger Linker: antimodern bis ins Kreuzberger Mark. Also spricht er sich grundsätzlich gegen das »Konstrukt vom ›islamischen‹ oder ›muslimischen Antisemitismus‹« aus; er differenziert, denn »nicht jede Kritik eines palästinensischen Jugendlichen oder eines Imams an der Besatzungspolitik Israels ist per se antisemitisch«. Und er glaubt zu wissen: »Zumeist erging es der jüdischen Bevölkerung unter muslimischer Herrschaft ... besser als im christlichen Abendland.« Deshalb empfiehlt er auch: »Mit dem Imam gegen Judenhass.« [5] Und das schreibt er ohne jede Ironie. Bitter ernst ist es ihm auch mit dem Anliegen, die eh schon allzu bescheidene ernsthafte Unterstützung Israels bestmöglich zu sabotieren. Seidel versucht dies beispielsweise auch dadurch, dass er Publizisten wie de Winter und Broder denunziert und in die Nähe des Rassismus und Rechtsextremismus rückt.
Am Beispiel Eberhard Seidels wird deutlich: Wer mit solchen den Konsens und das Bündnis für Israel sucht, nimmt die Verharmlosung des eliminatorischen Antizionismus und der evidentesten Gefahr für Israel, also des real existierenden Islamismus, willentlich in Kauf. Eben diese Verharmlosung aber ist de facto eine Politik gegen Israel. Solche vorgeblichen Bündnisse für Israel dienen, und das ist ihr eigentlicher politischer impact, der moralischen Absicherung eben jener Teilnehmer, deren ›Israelsolidarität‹ sich gemeinhin in ›Israelkritik‹ erschöpft. Und dafür können die eingeladenen Bündnispartner den Veranstaltern durchaus dankbar sein.
Arne Behrensen, der bereits erwähnte junge Mann im Vorzimmer Kerstin Müllers, will nicht nur Bündnisse organisieren oder Briefe im Auftrag seiner Chefin beantworten, sondern fühlt sich zum Behufe seiner ›Israelunterstützung‹ gar zu einem programmatischen Aufsatz bemüßigt, den jüngst das Onlinemagazin Hagalil abzudrucken bereit war [6]. In diesem Elaborat wendet er sich gegen jede »alarmistische Rhetorik« in Bezug auf die antisemitischen Vernichtungsfantasien des Iran, so, als wäre es im Angesicht der atomaren Bedrohung erste deutsche Bürgerpflicht, nur die Ruhe zu bewahren. Diese Friedhofsruhe empfiehlt Behrensen zuvörderst den Bedrohen selbst; sie werde aber durch jene proisraelischen Gruppen gestört, die mit dem »unseriösen Auftreten ihrer exzentrischen Vertreter ... vorwiegend christlich-fundamentalistische und antideutsch-linksradikale Bündnispartner« anzögen und damit einem »breiten gesellschaftlichen Bündnis im Wege« stünden. So spricht der Spießer, der selbst einst im »antideutsch-linksradikalen« Milieu sich profilierte und nun vor allem Seriosität anmahnt. Darin manifestiert sich aber vor allem die Entsolidarisierung von jenen jüdischen Organisationen, deren proisraelische Haltung grundsätzlich außer Frage steht. Behrensen müht sich redlich, eben diese Organisationen zur Distanzierung von ihren letzten verbliebenen Partnern zu zwingen und sie damit noch einsamer dastehen zu lassen. Und weil derlei Denunziation nicht erst seit Behrensens Traktat marodiert, so wird sich tatsächlich, wie eingefordert, sicherheitshalber distanziert; wohl aber nur so lange, bis man begreift, selbst das eigentliche Ziel der Denunziation zu sein. [7] Außerdem ist Behrensens Nötigung ganz unnötig und zeugt von wirrer Projektion; wesentliche Kerntruppen der Antideutschen haben sich nämlich aus ihren eigenen falschen Gründen schon längst aus der praktischen Kooperation mit dem, wie sie es nennen, »organisierten Judentum« [8] zurückgezogen.
Behrensen erschöpft seine Kräfte nun darin, vor einem Militärschlag gegen den Iran zu warnen: »Die Aussichten, das iranische Atomprogramm auf diese Weise effektiv stoppen zu können, sind mehr als zweifelhaft, der Bau der Bombe könnte sogar unausweichlicher werden.« Die Versuche also, die Bombe zu verhindern, würden die Bombe des Iran erst »unausweichlich« machen. Darüber hinaus gilt ihm bereits jede »Forderung nach einem Militärschlag und demonstrative Planung« als »gefundenes Fressen für den innenpolitisch durch verlorene Kommunal- und Expertenratswahlen sowie Wirtschaftsprobleme geschwächten Ahmadinedjad.« Bloß den Bären nicht reizen!, so lautet allenthalben die Warnung des ängstlichen Tierpflegers im Zoologischen Garten.
Beim Insistieren auf Verhandlungen geht es Behrensen nach Eigenauskunft letztlich auch darum, Israel vor seinem eigenen Handeln, nämlich den »gefährlichen Optionen« eines Militäreinsatzes, zu bewahren. So viel Fürsorge hat Kerstin Müllers Adjutant allemal zu bieten. Seine Handlungsoptionen: »Differenzen bei der Beurteilung des israelisch-palästinensischen Konflikts zurückzustellen und gemeinsam eine für beide Seiten akzeptable Zweistaatenlösung zu vertreten«, denn »alles andere bedient die Propaganda des iranischen Regimes«. Entkommt man dieser »Propagandafalle«, dann wird es auch etwas mit dem breiten gesellschaftlichen Bündnis. Doch wofür steht dieses dann? Ganz sicher nicht für »explizit pro-israelische Kampagnen«; eine »ausschließliche Konzentration auf die Atomfrage und die Bedrohung Israels ist kontraproduktiv«, denn »die überwiegende Mehrheit der Iraner ist keineswegs pro-israelisch, sondern eher pro-palästinensisch eingestellt«. Wollen die Feinde Israels den jüdischen Staat von Landkarte streichen, so wollen selbsterklärte ›Freunde‹ Israels den jüdischen Staat wenigstens schon einmal von der Agenda streichen. Aus rein taktischen Gründen, versteht sich.
Behrensen überlässt die wirklich große Politik zwar noch seiner Dienstherrin; der Parvenü geduldet sich einstweilen am unteren Ende der Karriereleiter. Aber er tut schon, was er kann, um proisraelische Kampagnen zu okkupieren, und dort, wo dies nicht gelingt, zu behindern. Unsinn zu schreiben allein reicht da nicht aus. Behrensens persönlicher Einsatz mag manchmal kurios wirken; lustig ist es aber nicht, was sich da im Vorfeld der Anti-Ahmadinedjad-Demonstration Anfang des Jahres in Berlin tat, als Behrensen eifrig Unterstützer dieser Demo, insbesondere jene aus dem linken und aus dem iranischen Umfeld, ebenso einfältig wie eindringlich agitierte, diese Unterstützung ja wieder einzustellen.
Andrea Livnat, Mitherausgeberin des Onlinemagazins Hagalil, wundert sich nun über vereinzelte negative Reaktionen auf Arne Behrensens Text, hatte die Gute doch nur gehofft, »eine Diskussion über das ›Wie‹ der Israelsolidarität« anstoßen zu können [9]. Sie fragt sich, Partei für Behrensen ergreifend: »Ist jede Kritik gleich so zu interpretieren, dass man am Existenzrecht Israels zweifelt?« Und damit klingt sie wie jeder ordinäre ›Israelkritiker‹, der immer schon die ›Antisemitismuskeule‹ fürchtet und deshalb diese dümmliche Frage bei jeder Gelegenheit wiederholt. Andrea Livnat ist ganz zerknirscht: »Bei solcher Dämonisierung, wie können wir hier die Basis zur Gemeinsamkeit finden?«
Die Antwort ist simpel: gar nicht.
Denn es gibt jene, die selbst aus taktischen Erwägungen nicht von Israel schweigen wollen, die aus Sorge um den jüdischen Staat, nein, aus Sorge um das Leben seine Bürger, nicht jede militärische Option grundsätzlich ausschließen, die eine Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel nicht zur Disposition stellen, die eine palästinensische Regierung zweier Terrororganisationen nicht für akzeptabel halten, und die nicht den Alarm zurückhalten, wenn ein zweiter Holocaust angekündigt wird. Es sind eben jene, die all diese Punkte als unhintergehbare Basisbanalitäten der Unterstützung Israels betrachten.
Konsensfähig ist das alles nicht. Wer das versteht, hat schon viel über Deutschland verstanden.
[1] http://www.allgemeine-zeitung.de/politik/objekt.php3?artikel_id=2756995
[2] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/interview/597379/
[3] http://www.gegen-al-quds-tag.de/aufruf.html
[4] http://www.taz.de/pt/2006/10/07/a0142.1/text
[5] http://www.taz.de/pt/2007/03/15/a0128.1/text
[6] http://www.hagalil.com/archiv/2007/03/atombombe.htm
[7] http://www.hagalil.com/archiv/2007/03/stawski.htm
[8] http://www.redaktion-bahamas.org/aktuell/AntwortGrossdemonstration.htm
[9] http://www.hagalil.com/archiv/2007/03/israelsolidaritaet.htm
Dienstag, 27. März 2007
Sonntag, 25. März 2007
Die Versuchungen der Resignation
Benny Morris befürchtet für Israel einen zweiten Holocaust. Niemand, so der israelische Historiker, wird den Iran davon abhalten, seine nuklearen Vernichtungsphantasien in die Tat umzusetzen. In resignativer Stimmung stürzen manche sich in verzweifelte Pseudoaktivität, andere kultivieren die »Einsamkeit des Kritikers«. Adorno aber meinte einmal, »kompromisslos kritisches Denken« habe sich der »törichten Weisheit der Resignation« zu verweigern [1]. Im Versuch der Vermittlung nämlich rettet die Kritik die Hoffnung.
Heinrich Blücher soll einmal gesagt haben, Optimisten wären Dummköpfe, Pessimisten aber Feiglinge. Mehr als nur ein bonmot ist dies die Essenz seiner Erfahrung: durch Gasvergiftung im Ersten Weltkrieg über den imperialistischen Krieg belehrt, durch Mitgliedschaft im Spartakusbund und in der Kommunistischen Partei vom Kommunisten nicht zum Antikommunisten, sondern zum Ex-Kommunisten geworden (eine Unterscheidung, die seine spätere Frau Hannah Arendt stets herausstellte), weiter politisch als Antifaschist und nicht-jüdischer Zionist aktiv und darum zur Flucht vor den Nazis nach Amerika gezwungen – Blücher hielt zu jeder Zeit trotz düsterer Prognose an der Möglichkeit politischen Handelns fest.
Dass es für Optimismus keinen Grund gibt, scheint damals wie heute evident. Die Entwicklungen im Nahen Osten, vom verlorenen Krieg Israels gegen die Hisbollah im Libanon bis zur nahezu ungehinderten nuklearen Aufrüstung des Iran, machen dies triftig. Auch der desolate Zustand derer, die hierzulande vorgeben, für Israel einzutreten, stimmt wenig zuversichtlich; die mangels Masse gescheiterte »Massendemonstration« gegen Ahmadinedjad in Berlin Ende Januar mag dafür beispielhaft stehen.
Doch Pessimismus taugt nicht als Alternative. Denn Pessimismus bedeutet, will man Blüchers Wort folgen, Feigheit, insofern mit der Prognose auf immer schlechter und schlechter werdende Verhältnisse die eigene Ohnmacht durch den Ohnmächtigen selbst erst zementiert wird. Mit der Behauptung, es habe doch kein Handeln mehr irgendeine Aussicht auf Erfolg, wird die eigene Tatenlosigkeit gerechtfertigt. Man kann es sich im Pessimismus wie im Optimismus recht behaglich einrichten, denn bei beidem erscheint das Denken und Handeln der anderen stets unnütz, da doch Geschichte, als negativ oder positiv determiniertes Schicksal begriffen, sich dem Eingreifen des Einzelnen vermeintlich entzieht.
Im Grunde ist es auch eine pessimistische Grundhaltung, wenn mit dem Verweis auf einen Zentralbegriff der Kritischen Theorie – »gesellschaftliche Totalität« – vorgeblich proisraelische Linke das politische Handeln de facto einstellen und nur noch generaloppositionelle »Kritik« zum alleinigen Behufe der Selbstvergewisserung innerhalb der in group betreiben. Darüber verkommt solche »Kritik« zum bloßen Gestus, weil sie die Furcht vor dem »Mitmachen« durch das Beharren im von Zweifeln nicht tangierten, hermetischen, immer nur noch kleiner werdenden Raum zu bannen sucht. Im Zuge solcher Regression ist wohl nicht einmal die Kritische Theorie davor gefeit, als Jargon missbraucht zu werden. [2]
Dabei wäre gerade die dialektische Mühsal des kritischen Denkens angeraten. Ein solches Denken nämlich, dass die Totalität und die Möglichkeit ihrer Durchbrechung stets zusammen zu bringen vermag, »verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen.« [3] So jedenfalls ist es in einer späten Vorrede zur Dialektik der Aufklärung zu lesen. Und früher schon, in der Minima Moralia, vermerkt Adorno, »es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.« [4]
Ein Blick, der aufs Grauen geht, muss heute einer in die Vergangenheit und die Zukunft zugleich sein. Der israelische Historiker Benny Morris hat ihn jüngst gewagt und dargelegt, dass ein zweiter Holocaust bevorsteht, weil niemand den Iran daran hindert, Israel nuklear zu vernichten. [5] Morris erinnert an die Vorgeschichte des ersten Holocaust, dem ein Jahrzehnt vorangegangen war, »in dem die Herzen und Hirne auf ihn vorbereitet wurden«. So aber ist es heute auch: »Verschiedene Botschaften haben verschiedene Publikumskreise erreicht, aber alle haben nur einem Ziel gedient, der Dämonisierung Israels.« Und dann, wenn es soweit ist, wird es sein wie damals; »wie im ersten Holocaust wird die internationale Gemeinschaft nichts tun.« Und es wird doch völlig anders sein, denn die Mörder werden den Opfern nicht mehr nahe kommen müssen, es wird ein Töten aus großer Distanz sein: »Im nächsten Holocaust wird es keine solch herzzerreißenden Szenen geben, wo Täter und Opfer von Blut besudelt sind.«
Benny Morris schreibt, als wäre diese Entwicklung mit historischer Notwendigkeit vorgezeichnet, er schreibt vordergründig resigniert. Und doch: In dem Moment, da er, sich einer Öffentlichkeit zuwendend, schreibt, rettet er die Möglichkeit einer anderen Entwicklung. Was zunächst als düstere Vision mit triftigen Gründen ausgebreitet wird, ist doch eigentlich ein Appell: verzweifelt vielleicht, und dennoch eine Intervention, die, so vage die angesprochene Öffentlichkeit auch immer sein mag, noch nicht jede Hoffnung aufgegeben hat. So löst gerade Morris die Forderung ein, »im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren« festzuhalten.
Das Beharren auf dieser »Möglichkeit des Besseren«, die Hoffnung also, gestaltet sich als ein Beharren wider besseres Wissen, denn was gewusst werden kann, hat Morris in aller Eindringlichkeit formuliert.
Die Hoffnung sich aber dadurch zu erhalten, dass der Blick den Zumutungen entzogen wird, man sich also absichtsvoller Blindheit hingibt, ist auch eine Form der Resignation: es ist die Resignation vor der Realität, die man beschließt, nicht mehr zur Kenntnis nehmen zu wollen. Wenn heute noch für Israel Politik gemacht werden soll, indem in Deutschland auf öffentlichen Plätzen »frisch gepresster Orangensaft aus Jaffaorangen und frisch zubereitete Falafel« [6] angeboten werden, dann hat dies tragikomische Züge. Hier wird einer Pseudorealität eine Pseudoaktivität entgegengesetzt [7] – und die wohlmeinenden Aktivisten vermögen nicht einmal mehr ihr eigenes Scheitern zu erkennen. Es ist wahrlich sinnfrei, sich gedankenlos der Praxis zuzuwenden, der alten Parole »Genug des Geredes« folgend, die eigene Rede einzustellen, und darüber, wie Adorno in seinen Überlegungen zur Resignation festhielt, zum Handeln sich terrorisieren zu lassen [8].
Die Hoffnung aber fahren zu lassen, ist die andere Form der Resignation. Wird das Politische dann allenfalls als »Einsamkeit des Kritikers« noch kultiviert, wird sich also nicht mehr um die Vermittlung der Kritik bemüht, weil an ihre Vermittelbarkeit nicht mehr geglaubt wird, so ist das angewandte Denkverfahren das der Distinktion, mithin der Gegenbegriff zu aller dialektischen Vermittlung [9]. Am Ende bleibt selbstgenügsame und selbstzufriedene Rechthaberei; der politische impact tangiert gegen Null.
Wird also ein Begriff von der »Einsamkeit des Kritikers« gepflegt, bei dem nicht ein intellektueller Zustand in der politischen Auseinandersetzung gemeint ist, sondern ein geradezu physischer Zustand außerhalb des gesellschaftlichen Raumes, so ist ein solcher Begriff schon ganz verkümmert. Dabei schärft sich Kritik erst in der Auseinandersetzung, hat sich hier zu äußern und – scheitert oft mit Notwendigkeit. Denn die Rede von der »Einsamkeit des Kritikers« macht genau hier Sinn, wo der Kritiker sich weder zum positiv gestimmten Mitmachen verpflichten lässt, während darüber das eigene Denken zu dispensieren wäre, noch sich der Anstrengung entledigt, die Kritik in die Auseinandersetzung zu tragen, statt sie der hermetisch abgeriegelten in group, in der kein Streit ist, vorzubehalten. Gerade weil Kritik, tritt sie den zu Kritisierenden zu nahe, als querulant erscheint, scheitert sie in der Praxis. Doch ist es auch gar nicht ihr Anliegen, in Praxis umgesetzt zu werden, sondern vielmehr jede Praxis zu hinterfragen.
Darum gilt, am eigenen Denken, an der Realität und an der Hoffnung festzuhalten, und diese Hoffung ist wohl begründet: »Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden: das Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken.« [10] Die Anstrengung der dialektischen Vermittlung erst befördert diese Hoffnung; wer sich ihr entzieht, hat längst schon aufgegeben. Dies gilt auch in Bewusstsein der Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens: »Ein solcher emphatischer Begriff von Denken allerdings ist nicht gedeckt, weder von bestehenden Verhältnissen noch von zu erreichenden Zielen, noch von irgendwelchen Bataillonen.« [11]
[1] Theodor W. Adorno: Resignation. In: Kulturkritik und Gesellschaft II (Gesammelte Werke Band 10.2), Seite 798
[2] Ein evidentes Beispiel für die Verkümmerung kritisch-theoretischer Begriffe zur Phrase bietet das aktuelle Editorial der Zeitschrift prodomo.
[3] Theodor W. Adorno: Zur Neuausgabe. In: Dialektik der Aufklärung (Gesammelte Werke Band 3), Seite 9
[4] Theodor W. Adorno: Herr Doktor, das ist schön von Euch. In: Minima Moralia (Gesammelte Werke Band 4), Seite 26
[5] Benny Morris: Der zweite Holocaust
[6] http://www.jerusalem-schalom.de/israeltag.htm
[7] Theodor W. Adorno: Resignation. in: Kulturkritik und Gesellschaft II (Gesammelte Werke Band 10.2), Seite 796
[8] Ebenda, Seite 798
[9] Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. (Gesammelte Werke Band 2), Seite 125
[10] Theodor W. Adorno: Resignation. In: Kulturkritik und Gesellschaft II (Gesammelte Werke Band 10.2), Seite 797
[11] Ebenda, Seite 798
Heinrich Blücher soll einmal gesagt haben, Optimisten wären Dummköpfe, Pessimisten aber Feiglinge. Mehr als nur ein bonmot ist dies die Essenz seiner Erfahrung: durch Gasvergiftung im Ersten Weltkrieg über den imperialistischen Krieg belehrt, durch Mitgliedschaft im Spartakusbund und in der Kommunistischen Partei vom Kommunisten nicht zum Antikommunisten, sondern zum Ex-Kommunisten geworden (eine Unterscheidung, die seine spätere Frau Hannah Arendt stets herausstellte), weiter politisch als Antifaschist und nicht-jüdischer Zionist aktiv und darum zur Flucht vor den Nazis nach Amerika gezwungen – Blücher hielt zu jeder Zeit trotz düsterer Prognose an der Möglichkeit politischen Handelns fest.
Dass es für Optimismus keinen Grund gibt, scheint damals wie heute evident. Die Entwicklungen im Nahen Osten, vom verlorenen Krieg Israels gegen die Hisbollah im Libanon bis zur nahezu ungehinderten nuklearen Aufrüstung des Iran, machen dies triftig. Auch der desolate Zustand derer, die hierzulande vorgeben, für Israel einzutreten, stimmt wenig zuversichtlich; die mangels Masse gescheiterte »Massendemonstration« gegen Ahmadinedjad in Berlin Ende Januar mag dafür beispielhaft stehen.
Doch Pessimismus taugt nicht als Alternative. Denn Pessimismus bedeutet, will man Blüchers Wort folgen, Feigheit, insofern mit der Prognose auf immer schlechter und schlechter werdende Verhältnisse die eigene Ohnmacht durch den Ohnmächtigen selbst erst zementiert wird. Mit der Behauptung, es habe doch kein Handeln mehr irgendeine Aussicht auf Erfolg, wird die eigene Tatenlosigkeit gerechtfertigt. Man kann es sich im Pessimismus wie im Optimismus recht behaglich einrichten, denn bei beidem erscheint das Denken und Handeln der anderen stets unnütz, da doch Geschichte, als negativ oder positiv determiniertes Schicksal begriffen, sich dem Eingreifen des Einzelnen vermeintlich entzieht.
Im Grunde ist es auch eine pessimistische Grundhaltung, wenn mit dem Verweis auf einen Zentralbegriff der Kritischen Theorie – »gesellschaftliche Totalität« – vorgeblich proisraelische Linke das politische Handeln de facto einstellen und nur noch generaloppositionelle »Kritik« zum alleinigen Behufe der Selbstvergewisserung innerhalb der in group betreiben. Darüber verkommt solche »Kritik« zum bloßen Gestus, weil sie die Furcht vor dem »Mitmachen« durch das Beharren im von Zweifeln nicht tangierten, hermetischen, immer nur noch kleiner werdenden Raum zu bannen sucht. Im Zuge solcher Regression ist wohl nicht einmal die Kritische Theorie davor gefeit, als Jargon missbraucht zu werden. [2]
Dabei wäre gerade die dialektische Mühsal des kritischen Denkens angeraten. Ein solches Denken nämlich, dass die Totalität und die Möglichkeit ihrer Durchbrechung stets zusammen zu bringen vermag, »verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen.« [3] So jedenfalls ist es in einer späten Vorrede zur Dialektik der Aufklärung zu lesen. Und früher schon, in der Minima Moralia, vermerkt Adorno, »es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.« [4]
Ein Blick, der aufs Grauen geht, muss heute einer in die Vergangenheit und die Zukunft zugleich sein. Der israelische Historiker Benny Morris hat ihn jüngst gewagt und dargelegt, dass ein zweiter Holocaust bevorsteht, weil niemand den Iran daran hindert, Israel nuklear zu vernichten. [5] Morris erinnert an die Vorgeschichte des ersten Holocaust, dem ein Jahrzehnt vorangegangen war, »in dem die Herzen und Hirne auf ihn vorbereitet wurden«. So aber ist es heute auch: »Verschiedene Botschaften haben verschiedene Publikumskreise erreicht, aber alle haben nur einem Ziel gedient, der Dämonisierung Israels.« Und dann, wenn es soweit ist, wird es sein wie damals; »wie im ersten Holocaust wird die internationale Gemeinschaft nichts tun.« Und es wird doch völlig anders sein, denn die Mörder werden den Opfern nicht mehr nahe kommen müssen, es wird ein Töten aus großer Distanz sein: »Im nächsten Holocaust wird es keine solch herzzerreißenden Szenen geben, wo Täter und Opfer von Blut besudelt sind.«
Benny Morris schreibt, als wäre diese Entwicklung mit historischer Notwendigkeit vorgezeichnet, er schreibt vordergründig resigniert. Und doch: In dem Moment, da er, sich einer Öffentlichkeit zuwendend, schreibt, rettet er die Möglichkeit einer anderen Entwicklung. Was zunächst als düstere Vision mit triftigen Gründen ausgebreitet wird, ist doch eigentlich ein Appell: verzweifelt vielleicht, und dennoch eine Intervention, die, so vage die angesprochene Öffentlichkeit auch immer sein mag, noch nicht jede Hoffnung aufgegeben hat. So löst gerade Morris die Forderung ein, »im ungemilderten Bewusstsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren« festzuhalten.
Das Beharren auf dieser »Möglichkeit des Besseren«, die Hoffnung also, gestaltet sich als ein Beharren wider besseres Wissen, denn was gewusst werden kann, hat Morris in aller Eindringlichkeit formuliert.
Die Hoffnung sich aber dadurch zu erhalten, dass der Blick den Zumutungen entzogen wird, man sich also absichtsvoller Blindheit hingibt, ist auch eine Form der Resignation: es ist die Resignation vor der Realität, die man beschließt, nicht mehr zur Kenntnis nehmen zu wollen. Wenn heute noch für Israel Politik gemacht werden soll, indem in Deutschland auf öffentlichen Plätzen »frisch gepresster Orangensaft aus Jaffaorangen und frisch zubereitete Falafel« [6] angeboten werden, dann hat dies tragikomische Züge. Hier wird einer Pseudorealität eine Pseudoaktivität entgegengesetzt [7] – und die wohlmeinenden Aktivisten vermögen nicht einmal mehr ihr eigenes Scheitern zu erkennen. Es ist wahrlich sinnfrei, sich gedankenlos der Praxis zuzuwenden, der alten Parole »Genug des Geredes« folgend, die eigene Rede einzustellen, und darüber, wie Adorno in seinen Überlegungen zur Resignation festhielt, zum Handeln sich terrorisieren zu lassen [8].
Die Hoffnung aber fahren zu lassen, ist die andere Form der Resignation. Wird das Politische dann allenfalls als »Einsamkeit des Kritikers« noch kultiviert, wird sich also nicht mehr um die Vermittlung der Kritik bemüht, weil an ihre Vermittelbarkeit nicht mehr geglaubt wird, so ist das angewandte Denkverfahren das der Distinktion, mithin der Gegenbegriff zu aller dialektischen Vermittlung [9]. Am Ende bleibt selbstgenügsame und selbstzufriedene Rechthaberei; der politische impact tangiert gegen Null.
Wird also ein Begriff von der »Einsamkeit des Kritikers« gepflegt, bei dem nicht ein intellektueller Zustand in der politischen Auseinandersetzung gemeint ist, sondern ein geradezu physischer Zustand außerhalb des gesellschaftlichen Raumes, so ist ein solcher Begriff schon ganz verkümmert. Dabei schärft sich Kritik erst in der Auseinandersetzung, hat sich hier zu äußern und – scheitert oft mit Notwendigkeit. Denn die Rede von der »Einsamkeit des Kritikers« macht genau hier Sinn, wo der Kritiker sich weder zum positiv gestimmten Mitmachen verpflichten lässt, während darüber das eigene Denken zu dispensieren wäre, noch sich der Anstrengung entledigt, die Kritik in die Auseinandersetzung zu tragen, statt sie der hermetisch abgeriegelten in group, in der kein Streit ist, vorzubehalten. Gerade weil Kritik, tritt sie den zu Kritisierenden zu nahe, als querulant erscheint, scheitert sie in der Praxis. Doch ist es auch gar nicht ihr Anliegen, in Praxis umgesetzt zu werden, sondern vielmehr jede Praxis zu hinterfragen.
Darum gilt, am eigenen Denken, an der Realität und an der Hoffnung festzuhalten, und diese Hoffung ist wohl begründet: »Was triftig gedacht wurde, muss woanders, von anderen gedacht werden: das Vertrauen begleitet noch den einsamsten und ohnmächtigsten Gedanken.« [10] Die Anstrengung der dialektischen Vermittlung erst befördert diese Hoffnung; wer sich ihr entzieht, hat längst schon aufgegeben. Dies gilt auch in Bewusstsein der Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens: »Ein solcher emphatischer Begriff von Denken allerdings ist nicht gedeckt, weder von bestehenden Verhältnissen noch von zu erreichenden Zielen, noch von irgendwelchen Bataillonen.« [11]
[1] Theodor W. Adorno: Resignation. In: Kulturkritik und Gesellschaft II (Gesammelte Werke Band 10.2), Seite 798
[2] Ein evidentes Beispiel für die Verkümmerung kritisch-theoretischer Begriffe zur Phrase bietet das aktuelle Editorial der Zeitschrift prodomo.
[3] Theodor W. Adorno: Zur Neuausgabe. In: Dialektik der Aufklärung (Gesammelte Werke Band 3), Seite 9
[4] Theodor W. Adorno: Herr Doktor, das ist schön von Euch. In: Minima Moralia (Gesammelte Werke Band 4), Seite 26
[5] Benny Morris: Der zweite Holocaust
[6] http://www.jerusalem-schalom.de/israeltag.htm
[7] Theodor W. Adorno: Resignation. in: Kulturkritik und Gesellschaft II (Gesammelte Werke Band 10.2), Seite 796
[8] Ebenda, Seite 798
[9] Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. (Gesammelte Werke Band 2), Seite 125
[10] Theodor W. Adorno: Resignation. In: Kulturkritik und Gesellschaft II (Gesammelte Werke Band 10.2), Seite 797
[11] Ebenda, Seite 798
Sonntag, 18. März 2007
Der neue Kalte Krieg
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Amerikanern und Europäern: Die Amerikaner glauben zwar mehrheitlich an Gott, bauen aber auf das eigene Handeln. Die Europäer dagegen geben sich säkular, ihnen ist die Religiösität vieler Amerikaner ganz fremd, sie vertrauen aber dennoch blind darauf, dass stets alles gut ausgeht.
In wenigen Jahren könnten Staaten wie Nordkorea und der Iran über Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen verfügen. Das zumindest befürchten die Vereinigten Staaten, und haben gute Gründe dafür. Sie sehen auch die desolate Lage der NATO, die seit 2002 ohne jedes Ergebnis über einen Raketenschutz diskutiert, und glauben keinesfalls an den Erfolg der von Grunde auf zweifelhaften Bemühungen der UNO, eine solche atomare Bedrohung durch Dialogangebote zu bannen.
Die Negation all dessen bestimmt die Haltung der meisten Europäer. Man kann gar eine gewisse Genugtuung erkennen, wenn Europäer den »Niedergang des amerikanischen Imperiums«, wie es so oft in Zeitungskommentaren und auf Buchdeckeln heißt, zu erkennen glauben und daran als Friedensmacht Europa durch vorgebliche Äquidistanz mitwirken wollen.
Weil die Amerikaner, aus Erfahrung klug geworden, nicht auf UNO, NATO und EU zu vertrauen gedenken, wollen sie mit zuverlässigeren Partnern wie Polen und Tschechien schnellstmöglich Elemente eines bodengestützten Raketenabwehrsystems (GMD – Ground-bases Midcourse Defense system) in Europa errichten, um die Vereinigten Staaten, ihre Truppen sowie Alliierte und Partner vor Raketenangriffen zu schützen. Als Bedrohung kann ein solches Schutzschild nur verstehen, wer entweder den Amerikanern und ihren Freunden diese Sicherheit nicht gönnt, oder aber wer aktiv zur Unsicherheit beitragen will, und durch ein solches Raketenabwehrsystems die Chancen dazu geschmälert sieht.
Würden die Europäer eine ähnliche geostrategische Bedrohungseinschätzung haben wie die Vereinigten Staaten, würden sie sich schleunigst unter den amerikanischen Raketenschirm flüchten und ihn bestmöglich unterstützen. Aber das alte Europa fühlt sich nicht bedroht, versteht sich eher in der Rolle des Mediators, ja oft genug auch als Partner derer, vor denen sich Amerika schützen muss.
Diese Spaltung des Westens befördert das Selbstbewusstsein der Russen. Auf der 43. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik Anfang Februar hielt Präsident Putin eine Rede, die in ihrer undiplomatischen Direktheit bis dahin kaum denkbar erschien. Er erklärte »die unipolare Welt« schlicht für beendet und griff die Außenpolitik der Amerikaner als »nahezu unbeschränkte, überzogene Anwendung militärischer Gewalt« an; die Vereinigten Staaten hätten ihre »nationalen Grenzen in jeder Art und Weise« übertreten. Putin forderte die breite antiamerikanische Verbrüderung. Mit Blick auf die amerikanischen Zumutungen meinte er, diese würden deutlich »in der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und bildungspolitischen Sphäre, die anderen Nationen übergeholfen werden soll. Nun, wer mag das schon? Wer ist darüber glücklich?« Schließlich führte er noch seine europäischen Freunde vor, denen er den Willen Russlands zu einer herausragenden weltpolitischen Rolle ankündigt: »Wir, auch ich persönlich, wir hören sehr oft Bitten unserer Partner, ja besonders der europäischen Partner, Russland solle eine zunehmend aktivere Rolle in der Weltpolitik spielen. In dieser Beziehung erlaube ich mir eine kleine Anmerkung. Es ist kaum nötig, uns das abzuverlangen. Russland ist ein Land mit einer großen Geschichte, die mehr als eintausend Jahre umfasst, und Russland hat praktisch immer das Privileg in Anspruch genommen, eine unabhängige Außenpolitik zu betreiben.« [1] Niemand, abgesehen von den Amerikanern, reagierte auf Putins Tonfall angemessen kritisch. Im Gegenteil, gerade deutsche Außenpolitiker, unter ihnen auch Verteidigungsminister Franz Josef Jung, haben wiederholt Verständnis für die Haltung der Russen geäußert.
So sieht sich auch der Oberbefehlshaber der russischen Kommandostreitkräfe, Juri Solowjow, zu fortgesetzter Dreistigkeit ermuntert; das US-Raketenschild, meint der General, würde keine maßgeblichen Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der strategischen Waffen Russlands haben: »Sie können meiner Ansicht nach unsere Interkontinentalraketen nicht gefährden«, so Solowjow [2]. Unter Anspielung auf die in der Tschechischen Republik geplante Radaranlage sagte er, es sei schlecht für Russland, wenn dessen Territorium einer dauerhaften Kontrolle durch die potentiellen Gegner ausgesetzt sei.
Des Generals Drohung, man würde sich durch die Amerikaner zu einem neuen Wettrüsten gezwungen sehen, ist anachronistisch. Dieses hat nämlich schon begonnen. Russland ist längst dabei, mittels der neuen Fla-Raketenkomplexe vom Typ S-400, die ab Juni 2007 an die Armee ausgeliefert werden, binnen weniger Jahre ein »Schutzschild für die staatlichen und militärischen Führungsorgane, etwa 30 Prozent der Bevölkerung des Landes und bis zu 60 Prozent seines Wissenschaftspotentials« aufzubauen [3].
Weder die unverhohlene Drohung des russischen Generals, Polen, die Tschechei und die USA potentiell als Gegner anzusehen, denen man trotz des US-Raketenschildes mittels russischer Interkontinentalraketen gefährlich werden könnte, noch die schon längst stattfindende, massive Um- und Aufrüstung der russischen Streitkräfte, ist den meisten Europäern, mithin den Deutschen, der Erwähnung wert. Sie äußern vielmehr Verständnis für die Russen und setzen alles daran, den Amerikanern einen wirksamen Schutz vor Massenvernichtungswaffen zu verwehren.
Eben weil der transatlantische Grabenbruch so irreparabel groß ist, und die Russen wissen, dass die Amerikaner weder auf NATO noch auf EU, allenfalls noch auf einige Neueuropäer wie die Polen und Tschechen bauen können, wittert die niedergegangene Sowjetmacht Morgenluft: Außenminister Sergej Lawrow freut sich, dass die unipolare Weltordnung gescheitert sei. »Objektiv nimmt das Hyperwachstum der USA in internationalen Angelegenheiten ab. Die Bedeutung des russischen Faktors in der Weltpolitik wird deutlich«, so der Minister auf einer Sitzung des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. Gleichzeitig wird seinen Worten nach das Auftauchen neuer Machtzentren evident, die um den Zugang zu Rohstoffen und Einfluss auf die Weltpolitik konkurrieren. »Der Westen verliert das Monopol auf die Steuerung des Globalisierungsprozesses.« [4]
Und ein Teil des Westens, der europäische Westen nämlich, nimmt dies wohl aus eigener antiamerikanischer Ranküne heraus wohlwollend und darum tatenlos zur Kenntnis. Immer deutlicher wird der Anspruch der Russen, sich geostrategisch und militärisch als Gegenmacht zu Amerika zu profilieren. Der neue Kalte Krieg – er hat bereits begonnen.
Die Fronten allerdings verlaufen heute anders. Der Westen nämlich ist tief gespalten; nicht zuletzt die deutsche Außenpolitik unterminiert jede Bemühung der Amerikaner, den heute noch unkalkulierbaren Risiken der nächsten Dekaden – von Russland über China bis zum Nahen und Mittleren Osten – jetzt schon präventiv vorzubauen.
Im Zuge dieses neuen Kalten Krieges unterstützt Russland antiamerikanische Bastionen wie Syrien und den Iran ökonomisch, technologisch und militärisch. Als Journalist, der sich mit diesen Vorgängen kritisch auseinandersetzt, kann man in Moskau schon einmal fünf Etagen tief aus dem Fenster gestürzt werden. So kürzlich geschehen: Wenige Tage vor seiner Ermordung erklärte Iwan Safronow den Herausgebern seiner Tageszeitung Kommersant, er arbeite gerade an einer Geschichte über den Verkauf russischer Iskander-Raketen an Syrien und russischer Kampfflugzeuge an den Iran [5]. Auch dieser Mord wird in Putins Russland – wie die vorangegangenen – nicht aufgeklärt werden. In Europa dazu wieder nur Schweigen. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nannte seinen Freund Wladimir Putin einst einen »lupenreinen Demokraten«.
Diese absichtsvolle Realitätsverweigerung hat Methode: Schröders ehemaliger Kanzleramtsminister Steinmeier, mitverantwortlich für dessen harten antiamerikanischen Kurs und heute Außenminister im Kabinett Merkel, sieht so auch das Europäische Modell der »Verflechtung und Integration« unter Einschluss Russlands als »einzig zukunftsfähige Antwort auf die zentrale Veränderung im 21. Jahrhundert«. Schon damit wird amerikanischen Politikmodellen eine Absage erteilt. In einem Beitrag für die Zeitschrift Internationale Politik lässt Steinmeier »kritische Fragen nach der künftigen Entwicklung Russlands« kaum gelten: »Mein Eindruck ist, dass gerade in der Generation, die jetzt, 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, Verantwortung in Russland trägt, viele – nicht nur Präsident Putin – Russland eng an Europa binden wollen ... Strategien des ›containment‹, des indifferenten Nebeneinanders oder der nur selektiven Kooperation mit Russland, wie sie mitunter als Rezept für den Umgang mit einem außenpolitisch selbstbewussten, manchmal sehr eigenwillig auftretenden Russland empfohlen werden, sind jedenfalls nicht im europäischen Interesse.« [6]
In Europas Interesse ist aber, Russlands Positionen gegen Amerika zu stärken. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung [7] stellt Steinmeier süffisant fest, dass »die einzig verbliebene Supermacht, Amerika, erlebt, dass militärische Überlegenheit allein weder Freundschaft noch Frieden erzwingen kann.« Galt bisher, dass Frieden nicht nur, aber auch durch Abschreckung zu gewährleisten ist, erklärt der deutsche Außenminister den Kalten Krieg endgültig für beendet und meint: »Dauerhafter Frieden im Zeitalter der Globalisierung basiert nicht mehr auf militärischer Abschreckung, sondern auf der Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Überwindung politischer, kultureller und religiöser Trennlinien.« Steinmeier lehnt die militärische Vorsorge – zumindest die der Amerikaner – ab, denn »Sicherheit darf nicht um den Preis neuen Misstrauens oder gar neuer Unsicherheit erkauft werden«. Steinmeier setzt auf Abrüstung, »umfassende Zusammenarbeit« mit dem Iran, einem »Land mit enormem Entwicklungspotential«. Das alles klingt, wie aus den Flugblättern der deutschen Friedensbewegung abgeschrieben. Alles, was Steinmeier zu bieten hat, ist »mein eindringlicher Appell an die Führung in Teheran«: »Verzichtet auf Atomwaffen und den Bau von Langstreckenraketen, und das in nachprüfbarer Weise!« Was aber geschieht, wenn die Mullahs solche Appelle nicht hören wollen und mit Russlands Hilfe zur Atommacht aufsteigen, dazu hat Steinmeier keine Antworten. Es wäre aber falsch, dem deutschen Außenminister schlicht Naivität zu unterstellen; Deutschland wird zwar schlecht, aber nicht von Dummköpfen regiert, die nicht wissen, was sie tun. Steinmeier bedient ebenso die Stimmung seines friedensbewegten Wahlvolkes wie die Interessen Russlands und in Teilen des Iran, die sich mit seinen Vorstellungen von einer Welt ohne Amerikas Vormachtstellung deckt. Damit trifft er auch den wunden Punkt Angela Merkels.
Denn die Achilles-Ferse der Bundeskanzlerin ist ihre Außenpolitik: Mit ihrer relativ proamerikanischen Grundhaltung, ihrem Versuch, die transatlantischen Beziehungen nach den destruktiven Jahren der Regierung Schröder/Fischer wieder zu verbessern, steht sie in der Koalition, ja selbst in ihrer eigenen Partei ohne Mehrheit da. Würde die Koalition über außenpolitische Fragen ernsthaft ins Streiten kommen, so könnten die Sozialdemokraten mit ihrer ungebrochen antiamerikanischen Position davon ausgehen, bei den nächsten Wahlen daraus Profit ziehen zu können. Um jeden Konflikt schon im Keime zu ersticken, versucht beispielsweise der stellvertretende Unions-Fraktionschefs Andreas Schockenhoff, die Anmaßungen der Sozialdemokraten herunterzuspielen; sie würden keinesfalls einen neuen Streit in der Koalition auslösen. [8] Wie eine neue Umfrage der BBC ermittelt [9], sind mehr als 74% der Deutschen vom äußerst negativen Einfluss der Vereinigten Staaten auf die Weltpolitik überzeugt. Das mag die Bundeskanzlerin anders sehen, nur bleibt die Frage, wie lange sie in außenpolitischen Angelegenheiten gegen ihr eigenes Parlament, gegen ihr eigenes Volk zu regieren vermag.
Versucht Merkel noch das Raketenabwehrsystem in die NATO einzubinden, sind die Sozialdemokraten grundsätzlich dagegen. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck erklärt, er sehe die Sinnhaftigkeit dieser Stationierung nicht [10]. Er appelliert an die Europäer, gemeinsam gegen das Rüstungsprogramm vorzugehen. Es gäbe, so der Parteichef, genügend andere Probleme wie Armut, Klimawandel und Terrorismus [11]. Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul stellt die behauptete Bedrohung überhaupt in Frage und gibt sich gewiss: »Bislang verfügen weder der Iran noch Nordkorea über entsprechende Langstreckenraketen.« Sie sieht keinen Grund zum Handeln, denn: »Im Iran selber wird der sicherheitspolitische Kurs des dortigen Präsidenten von manchen zunehmend in Frage gestellt. In Ostasien sehen wir zurzeit erste Schritte kooperativer Lösungen.« Deswegen wäre es »unverantwortlich, mit extrem teuren, technisch unausgereiften und unzuverlässigen Abwehrtechnologien unkalkulierbare politische und militärische Risiken zu erzeugen«. Auch sie will, wie ihr Parteivorsitzender, ganz vom Thema ablenken, fokussiert auf Hunger, Armut, Staatszerfall und Klimawandel, und folgert: »Wir müssen heute die richtigen Prioritäten setzen.« [12] Mit derlei europäischen Partnern hat Russland, hat selbst der Iran weitestgehend freie Hand. Dumm nur für die Europäer, dass sich weder Russland noch der Iran sonderlich um »Hunger, Armut, Staatszerfall und Klimawandel« kümmern, oder wenn doch, dann in äußerst bedenklicher Art und Weise.
In der Union ist es wieder einmal nur Eckart von Klaeden, der deutlich den Appeasern und Kretins widerspricht: »Bisher sind aber die Kritiker der Pläne der USA eine überzeugende Antwort schuldig geblieben, wie unsere Bevölkerung wirksam vor den Gefahren geschützt werden soll, die mit der Aufrüstung des Iran verbunden sind.« Denn nicht die Pläne der USA, sondern die Aktivitäten des Iran brächten die Gefahr eines neuen atomaren Wettrüstens mit sich. Dies berge auch das Risiko der Weitergabe von Nuklearmaterial an Terroristen. »Es ist daher unverständlich, wie man vor den Plänen der USA für ein Raketenabwehrsystem mehr Sorge haben kann als vor dem iranischen Nuklear- und Raketenprogrammen ... Wir dürfen das Richtige nicht unterlassen, nur weil es Moskau falsch verstehen will.« [13]
Mir dieser Position steht Klaeden weitestgehend allein. In der Union regt sich Widerstand gegen den transatlantischen Kurs ihres außenpolitischen Sprechers. Peter Gauweiler (CSU) und Willy Wimmer (CDU), beides Mitglieder im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, führen die antiamerikanische Fraktion innerhalb der Konservativen an; sie haben erst jüngst eine Verfassungsklage gegen die Unterstützung Deutschlands für den »völkerrechtswidrigen Krieg« der Amerikaner in Afghanistan unternommen. Sein Ressentiment brachte jener Gauweiler kürzlich auf den Punkt, als er in einem Radiointerview behauptete, die Amerikaner führten im Nahen und Mittleren Osten einen Ausrottungskampf gegen fremde Kulturen, geradeso, wie sie es einst mit den Apachen und den Sioux getan hätten [14]. Die Kräfteverhältnisse im deutschen Bundestag sind offensichtlich, da jede Kritik an den absurden Verlautbarungen Gauweilers ausblieb, es vielmehr Zustimmung aus allen Lagern bis hin zur Linkspartei gab. So gibt es, wie es der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer einmal formulierte, keine linke, rechte oder gar grüne Außenpolitik, sondern nur noch deutsche Außenpolitik.
Die Kanzlerin scheint zu erkennen, dass sie mit ihren außenpolitischen Positionen recht allein ist und knickt in allen wesentlichen Fragen ein, überlässt dem Außenminister weitestgehend das Wort. Ihre Äußerungen sind allenfalls noch äquidistant. So brachte sie es bei ihrem jüngsten Besuch in Warschau mit Blick auf den Konflikt um das amerikanische Raketenabwehrsystem nur zu der Formel, Europa dürfe sich »auch in Sicherheitsfragen nicht spalten lassen. Geteilte Sicherheit wäre mangelnde Sicherheit.« Und im Morgenmagazin des ZDF stellt sie deutlicher heraus, dass in Bezug auf die Stationierung von Elementen des Raketenabwehrsystems in Osteuropa die Meinung Russlands berücksichtigt werden müsse.
Das aber ist Unfug. Denn würde Moskaus Meinung berücksichtigt, dürfte es kein amerikanisches Raketenabwehrsystem geben. Genau deshalb muss Russland ignoriert werden. Fühlt es sich von einem Raketenabwehrsystem bedroht, wird es gute Gründe dafür haben. Und eben diese Gründe sprechen allesamt dafür, sich nicht nur vor Teheran und Pjöngjang hinreichend zu schützen. Bleibt zu hoffen, dass die Amerikaner auf ihrem Raketenabwehrsystem beharren und im Fall der Fälle so großzügig sein werden, die Europäer wieder einmal vor den Folgen ihrer eigenen Politik zu schützen.
[1] Wladimir Putin: Rede auf der 43. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik.
[2] Russland Aktuell: General Solowjow: USA treiben Russland zum Wettrüsten.
[3] RIA Novosti: Erstes Fla-Raketenregiment mit S-400-System wird zum 1. Juni in Dienst gestellt.
[4] RIA Novosti: Lawrow sieht schwindenden Einfluss der USA auf Weltpolitik.
[5] Caroline Glick: Column One: As Syria prepares for war.
[6] Frank-Walter Steinmeier: Verflechtung und Integration. In: Internationale Politik, März 2007
[7] Frank-Walter Steinmeier: Wir wollen kein neues Wettrüsten. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18. März 2007
[8] Reuters: SPD verschärft Kritik an den USA im Raketenstreit.
[9] BBC World Service Poll: Israel and Iran share the most negative ratings in global poll.
[10] Reuters: Merkel kritisiert Polen wegen des geplanten Raketenschutzschilds.
[11] Reuters: SPD verschärft Kritik an den USA im Raketenstreit.
[12] Heidemarie Wieczorek-Zeul: Nachdenken statt Vorrüsten. In: Frankfurter Rundschau, 17. März 2007
[13] dpa: SPD warnt vor Wettrüsten in Europa.
[14] Peter Gauweiler am 5. Januar 2007 im Interview auf DeutschlandRadio Kultur: US-Politik auf dem Irrweg.
In wenigen Jahren könnten Staaten wie Nordkorea und der Iran über Interkontinentalraketen mit Atomsprengköpfen verfügen. Das zumindest befürchten die Vereinigten Staaten, und haben gute Gründe dafür. Sie sehen auch die desolate Lage der NATO, die seit 2002 ohne jedes Ergebnis über einen Raketenschutz diskutiert, und glauben keinesfalls an den Erfolg der von Grunde auf zweifelhaften Bemühungen der UNO, eine solche atomare Bedrohung durch Dialogangebote zu bannen.
Die Negation all dessen bestimmt die Haltung der meisten Europäer. Man kann gar eine gewisse Genugtuung erkennen, wenn Europäer den »Niedergang des amerikanischen Imperiums«, wie es so oft in Zeitungskommentaren und auf Buchdeckeln heißt, zu erkennen glauben und daran als Friedensmacht Europa durch vorgebliche Äquidistanz mitwirken wollen.
Weil die Amerikaner, aus Erfahrung klug geworden, nicht auf UNO, NATO und EU zu vertrauen gedenken, wollen sie mit zuverlässigeren Partnern wie Polen und Tschechien schnellstmöglich Elemente eines bodengestützten Raketenabwehrsystems (GMD – Ground-bases Midcourse Defense system) in Europa errichten, um die Vereinigten Staaten, ihre Truppen sowie Alliierte und Partner vor Raketenangriffen zu schützen. Als Bedrohung kann ein solches Schutzschild nur verstehen, wer entweder den Amerikanern und ihren Freunden diese Sicherheit nicht gönnt, oder aber wer aktiv zur Unsicherheit beitragen will, und durch ein solches Raketenabwehrsystems die Chancen dazu geschmälert sieht.
Würden die Europäer eine ähnliche geostrategische Bedrohungseinschätzung haben wie die Vereinigten Staaten, würden sie sich schleunigst unter den amerikanischen Raketenschirm flüchten und ihn bestmöglich unterstützen. Aber das alte Europa fühlt sich nicht bedroht, versteht sich eher in der Rolle des Mediators, ja oft genug auch als Partner derer, vor denen sich Amerika schützen muss.
Diese Spaltung des Westens befördert das Selbstbewusstsein der Russen. Auf der 43. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik Anfang Februar hielt Präsident Putin eine Rede, die in ihrer undiplomatischen Direktheit bis dahin kaum denkbar erschien. Er erklärte »die unipolare Welt« schlicht für beendet und griff die Außenpolitik der Amerikaner als »nahezu unbeschränkte, überzogene Anwendung militärischer Gewalt« an; die Vereinigten Staaten hätten ihre »nationalen Grenzen in jeder Art und Weise« übertreten. Putin forderte die breite antiamerikanische Verbrüderung. Mit Blick auf die amerikanischen Zumutungen meinte er, diese würden deutlich »in der wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und bildungspolitischen Sphäre, die anderen Nationen übergeholfen werden soll. Nun, wer mag das schon? Wer ist darüber glücklich?« Schließlich führte er noch seine europäischen Freunde vor, denen er den Willen Russlands zu einer herausragenden weltpolitischen Rolle ankündigt: »Wir, auch ich persönlich, wir hören sehr oft Bitten unserer Partner, ja besonders der europäischen Partner, Russland solle eine zunehmend aktivere Rolle in der Weltpolitik spielen. In dieser Beziehung erlaube ich mir eine kleine Anmerkung. Es ist kaum nötig, uns das abzuverlangen. Russland ist ein Land mit einer großen Geschichte, die mehr als eintausend Jahre umfasst, und Russland hat praktisch immer das Privileg in Anspruch genommen, eine unabhängige Außenpolitik zu betreiben.« [1] Niemand, abgesehen von den Amerikanern, reagierte auf Putins Tonfall angemessen kritisch. Im Gegenteil, gerade deutsche Außenpolitiker, unter ihnen auch Verteidigungsminister Franz Josef Jung, haben wiederholt Verständnis für die Haltung der Russen geäußert.
So sieht sich auch der Oberbefehlshaber der russischen Kommandostreitkräfe, Juri Solowjow, zu fortgesetzter Dreistigkeit ermuntert; das US-Raketenschild, meint der General, würde keine maßgeblichen Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der strategischen Waffen Russlands haben: »Sie können meiner Ansicht nach unsere Interkontinentalraketen nicht gefährden«, so Solowjow [2]. Unter Anspielung auf die in der Tschechischen Republik geplante Radaranlage sagte er, es sei schlecht für Russland, wenn dessen Territorium einer dauerhaften Kontrolle durch die potentiellen Gegner ausgesetzt sei.
Des Generals Drohung, man würde sich durch die Amerikaner zu einem neuen Wettrüsten gezwungen sehen, ist anachronistisch. Dieses hat nämlich schon begonnen. Russland ist längst dabei, mittels der neuen Fla-Raketenkomplexe vom Typ S-400, die ab Juni 2007 an die Armee ausgeliefert werden, binnen weniger Jahre ein »Schutzschild für die staatlichen und militärischen Führungsorgane, etwa 30 Prozent der Bevölkerung des Landes und bis zu 60 Prozent seines Wissenschaftspotentials« aufzubauen [3].
Weder die unverhohlene Drohung des russischen Generals, Polen, die Tschechei und die USA potentiell als Gegner anzusehen, denen man trotz des US-Raketenschildes mittels russischer Interkontinentalraketen gefährlich werden könnte, noch die schon längst stattfindende, massive Um- und Aufrüstung der russischen Streitkräfte, ist den meisten Europäern, mithin den Deutschen, der Erwähnung wert. Sie äußern vielmehr Verständnis für die Russen und setzen alles daran, den Amerikanern einen wirksamen Schutz vor Massenvernichtungswaffen zu verwehren.
Eben weil der transatlantische Grabenbruch so irreparabel groß ist, und die Russen wissen, dass die Amerikaner weder auf NATO noch auf EU, allenfalls noch auf einige Neueuropäer wie die Polen und Tschechen bauen können, wittert die niedergegangene Sowjetmacht Morgenluft: Außenminister Sergej Lawrow freut sich, dass die unipolare Weltordnung gescheitert sei. »Objektiv nimmt das Hyperwachstum der USA in internationalen Angelegenheiten ab. Die Bedeutung des russischen Faktors in der Weltpolitik wird deutlich«, so der Minister auf einer Sitzung des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik. Gleichzeitig wird seinen Worten nach das Auftauchen neuer Machtzentren evident, die um den Zugang zu Rohstoffen und Einfluss auf die Weltpolitik konkurrieren. »Der Westen verliert das Monopol auf die Steuerung des Globalisierungsprozesses.« [4]
Und ein Teil des Westens, der europäische Westen nämlich, nimmt dies wohl aus eigener antiamerikanischer Ranküne heraus wohlwollend und darum tatenlos zur Kenntnis. Immer deutlicher wird der Anspruch der Russen, sich geostrategisch und militärisch als Gegenmacht zu Amerika zu profilieren. Der neue Kalte Krieg – er hat bereits begonnen.
Die Fronten allerdings verlaufen heute anders. Der Westen nämlich ist tief gespalten; nicht zuletzt die deutsche Außenpolitik unterminiert jede Bemühung der Amerikaner, den heute noch unkalkulierbaren Risiken der nächsten Dekaden – von Russland über China bis zum Nahen und Mittleren Osten – jetzt schon präventiv vorzubauen.
Im Zuge dieses neuen Kalten Krieges unterstützt Russland antiamerikanische Bastionen wie Syrien und den Iran ökonomisch, technologisch und militärisch. Als Journalist, der sich mit diesen Vorgängen kritisch auseinandersetzt, kann man in Moskau schon einmal fünf Etagen tief aus dem Fenster gestürzt werden. So kürzlich geschehen: Wenige Tage vor seiner Ermordung erklärte Iwan Safronow den Herausgebern seiner Tageszeitung Kommersant, er arbeite gerade an einer Geschichte über den Verkauf russischer Iskander-Raketen an Syrien und russischer Kampfflugzeuge an den Iran [5]. Auch dieser Mord wird in Putins Russland – wie die vorangegangenen – nicht aufgeklärt werden. In Europa dazu wieder nur Schweigen. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nannte seinen Freund Wladimir Putin einst einen »lupenreinen Demokraten«.
Diese absichtsvolle Realitätsverweigerung hat Methode: Schröders ehemaliger Kanzleramtsminister Steinmeier, mitverantwortlich für dessen harten antiamerikanischen Kurs und heute Außenminister im Kabinett Merkel, sieht so auch das Europäische Modell der »Verflechtung und Integration« unter Einschluss Russlands als »einzig zukunftsfähige Antwort auf die zentrale Veränderung im 21. Jahrhundert«. Schon damit wird amerikanischen Politikmodellen eine Absage erteilt. In einem Beitrag für die Zeitschrift Internationale Politik lässt Steinmeier »kritische Fragen nach der künftigen Entwicklung Russlands« kaum gelten: »Mein Eindruck ist, dass gerade in der Generation, die jetzt, 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, Verantwortung in Russland trägt, viele – nicht nur Präsident Putin – Russland eng an Europa binden wollen ... Strategien des ›containment‹, des indifferenten Nebeneinanders oder der nur selektiven Kooperation mit Russland, wie sie mitunter als Rezept für den Umgang mit einem außenpolitisch selbstbewussten, manchmal sehr eigenwillig auftretenden Russland empfohlen werden, sind jedenfalls nicht im europäischen Interesse.« [6]
In Europas Interesse ist aber, Russlands Positionen gegen Amerika zu stärken. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung [7] stellt Steinmeier süffisant fest, dass »die einzig verbliebene Supermacht, Amerika, erlebt, dass militärische Überlegenheit allein weder Freundschaft noch Frieden erzwingen kann.« Galt bisher, dass Frieden nicht nur, aber auch durch Abschreckung zu gewährleisten ist, erklärt der deutsche Außenminister den Kalten Krieg endgültig für beendet und meint: »Dauerhafter Frieden im Zeitalter der Globalisierung basiert nicht mehr auf militärischer Abschreckung, sondern auf der Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Überwindung politischer, kultureller und religiöser Trennlinien.« Steinmeier lehnt die militärische Vorsorge – zumindest die der Amerikaner – ab, denn »Sicherheit darf nicht um den Preis neuen Misstrauens oder gar neuer Unsicherheit erkauft werden«. Steinmeier setzt auf Abrüstung, »umfassende Zusammenarbeit« mit dem Iran, einem »Land mit enormem Entwicklungspotential«. Das alles klingt, wie aus den Flugblättern der deutschen Friedensbewegung abgeschrieben. Alles, was Steinmeier zu bieten hat, ist »mein eindringlicher Appell an die Führung in Teheran«: »Verzichtet auf Atomwaffen und den Bau von Langstreckenraketen, und das in nachprüfbarer Weise!« Was aber geschieht, wenn die Mullahs solche Appelle nicht hören wollen und mit Russlands Hilfe zur Atommacht aufsteigen, dazu hat Steinmeier keine Antworten. Es wäre aber falsch, dem deutschen Außenminister schlicht Naivität zu unterstellen; Deutschland wird zwar schlecht, aber nicht von Dummköpfen regiert, die nicht wissen, was sie tun. Steinmeier bedient ebenso die Stimmung seines friedensbewegten Wahlvolkes wie die Interessen Russlands und in Teilen des Iran, die sich mit seinen Vorstellungen von einer Welt ohne Amerikas Vormachtstellung deckt. Damit trifft er auch den wunden Punkt Angela Merkels.
Denn die Achilles-Ferse der Bundeskanzlerin ist ihre Außenpolitik: Mit ihrer relativ proamerikanischen Grundhaltung, ihrem Versuch, die transatlantischen Beziehungen nach den destruktiven Jahren der Regierung Schröder/Fischer wieder zu verbessern, steht sie in der Koalition, ja selbst in ihrer eigenen Partei ohne Mehrheit da. Würde die Koalition über außenpolitische Fragen ernsthaft ins Streiten kommen, so könnten die Sozialdemokraten mit ihrer ungebrochen antiamerikanischen Position davon ausgehen, bei den nächsten Wahlen daraus Profit ziehen zu können. Um jeden Konflikt schon im Keime zu ersticken, versucht beispielsweise der stellvertretende Unions-Fraktionschefs Andreas Schockenhoff, die Anmaßungen der Sozialdemokraten herunterzuspielen; sie würden keinesfalls einen neuen Streit in der Koalition auslösen. [8] Wie eine neue Umfrage der BBC ermittelt [9], sind mehr als 74% der Deutschen vom äußerst negativen Einfluss der Vereinigten Staaten auf die Weltpolitik überzeugt. Das mag die Bundeskanzlerin anders sehen, nur bleibt die Frage, wie lange sie in außenpolitischen Angelegenheiten gegen ihr eigenes Parlament, gegen ihr eigenes Volk zu regieren vermag.
Versucht Merkel noch das Raketenabwehrsystem in die NATO einzubinden, sind die Sozialdemokraten grundsätzlich dagegen. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck erklärt, er sehe die Sinnhaftigkeit dieser Stationierung nicht [10]. Er appelliert an die Europäer, gemeinsam gegen das Rüstungsprogramm vorzugehen. Es gäbe, so der Parteichef, genügend andere Probleme wie Armut, Klimawandel und Terrorismus [11]. Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul stellt die behauptete Bedrohung überhaupt in Frage und gibt sich gewiss: »Bislang verfügen weder der Iran noch Nordkorea über entsprechende Langstreckenraketen.« Sie sieht keinen Grund zum Handeln, denn: »Im Iran selber wird der sicherheitspolitische Kurs des dortigen Präsidenten von manchen zunehmend in Frage gestellt. In Ostasien sehen wir zurzeit erste Schritte kooperativer Lösungen.« Deswegen wäre es »unverantwortlich, mit extrem teuren, technisch unausgereiften und unzuverlässigen Abwehrtechnologien unkalkulierbare politische und militärische Risiken zu erzeugen«. Auch sie will, wie ihr Parteivorsitzender, ganz vom Thema ablenken, fokussiert auf Hunger, Armut, Staatszerfall und Klimawandel, und folgert: »Wir müssen heute die richtigen Prioritäten setzen.« [12] Mit derlei europäischen Partnern hat Russland, hat selbst der Iran weitestgehend freie Hand. Dumm nur für die Europäer, dass sich weder Russland noch der Iran sonderlich um »Hunger, Armut, Staatszerfall und Klimawandel« kümmern, oder wenn doch, dann in äußerst bedenklicher Art und Weise.
In der Union ist es wieder einmal nur Eckart von Klaeden, der deutlich den Appeasern und Kretins widerspricht: »Bisher sind aber die Kritiker der Pläne der USA eine überzeugende Antwort schuldig geblieben, wie unsere Bevölkerung wirksam vor den Gefahren geschützt werden soll, die mit der Aufrüstung des Iran verbunden sind.« Denn nicht die Pläne der USA, sondern die Aktivitäten des Iran brächten die Gefahr eines neuen atomaren Wettrüstens mit sich. Dies berge auch das Risiko der Weitergabe von Nuklearmaterial an Terroristen. »Es ist daher unverständlich, wie man vor den Plänen der USA für ein Raketenabwehrsystem mehr Sorge haben kann als vor dem iranischen Nuklear- und Raketenprogrammen ... Wir dürfen das Richtige nicht unterlassen, nur weil es Moskau falsch verstehen will.« [13]
Mir dieser Position steht Klaeden weitestgehend allein. In der Union regt sich Widerstand gegen den transatlantischen Kurs ihres außenpolitischen Sprechers. Peter Gauweiler (CSU) und Willy Wimmer (CDU), beides Mitglieder im Auswärtigen Ausschuss des Deutschen Bundestages, führen die antiamerikanische Fraktion innerhalb der Konservativen an; sie haben erst jüngst eine Verfassungsklage gegen die Unterstützung Deutschlands für den »völkerrechtswidrigen Krieg« der Amerikaner in Afghanistan unternommen. Sein Ressentiment brachte jener Gauweiler kürzlich auf den Punkt, als er in einem Radiointerview behauptete, die Amerikaner führten im Nahen und Mittleren Osten einen Ausrottungskampf gegen fremde Kulturen, geradeso, wie sie es einst mit den Apachen und den Sioux getan hätten [14]. Die Kräfteverhältnisse im deutschen Bundestag sind offensichtlich, da jede Kritik an den absurden Verlautbarungen Gauweilers ausblieb, es vielmehr Zustimmung aus allen Lagern bis hin zur Linkspartei gab. So gibt es, wie es der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer einmal formulierte, keine linke, rechte oder gar grüne Außenpolitik, sondern nur noch deutsche Außenpolitik.
Die Kanzlerin scheint zu erkennen, dass sie mit ihren außenpolitischen Positionen recht allein ist und knickt in allen wesentlichen Fragen ein, überlässt dem Außenminister weitestgehend das Wort. Ihre Äußerungen sind allenfalls noch äquidistant. So brachte sie es bei ihrem jüngsten Besuch in Warschau mit Blick auf den Konflikt um das amerikanische Raketenabwehrsystem nur zu der Formel, Europa dürfe sich »auch in Sicherheitsfragen nicht spalten lassen. Geteilte Sicherheit wäre mangelnde Sicherheit.« Und im Morgenmagazin des ZDF stellt sie deutlicher heraus, dass in Bezug auf die Stationierung von Elementen des Raketenabwehrsystems in Osteuropa die Meinung Russlands berücksichtigt werden müsse.
Das aber ist Unfug. Denn würde Moskaus Meinung berücksichtigt, dürfte es kein amerikanisches Raketenabwehrsystem geben. Genau deshalb muss Russland ignoriert werden. Fühlt es sich von einem Raketenabwehrsystem bedroht, wird es gute Gründe dafür haben. Und eben diese Gründe sprechen allesamt dafür, sich nicht nur vor Teheran und Pjöngjang hinreichend zu schützen. Bleibt zu hoffen, dass die Amerikaner auf ihrem Raketenabwehrsystem beharren und im Fall der Fälle so großzügig sein werden, die Europäer wieder einmal vor den Folgen ihrer eigenen Politik zu schützen.
[1] Wladimir Putin: Rede auf der 43. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik.
[2] Russland Aktuell: General Solowjow: USA treiben Russland zum Wettrüsten.
[3] RIA Novosti: Erstes Fla-Raketenregiment mit S-400-System wird zum 1. Juni in Dienst gestellt.
[4] RIA Novosti: Lawrow sieht schwindenden Einfluss der USA auf Weltpolitik.
[5] Caroline Glick: Column One: As Syria prepares for war.
[6] Frank-Walter Steinmeier: Verflechtung und Integration. In: Internationale Politik, März 2007
[7] Frank-Walter Steinmeier: Wir wollen kein neues Wettrüsten. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18. März 2007
[8] Reuters: SPD verschärft Kritik an den USA im Raketenstreit.
[9] BBC World Service Poll: Israel and Iran share the most negative ratings in global poll.
[10] Reuters: Merkel kritisiert Polen wegen des geplanten Raketenschutzschilds.
[11] Reuters: SPD verschärft Kritik an den USA im Raketenstreit.
[12] Heidemarie Wieczorek-Zeul: Nachdenken statt Vorrüsten. In: Frankfurter Rundschau, 17. März 2007
[13] dpa: SPD warnt vor Wettrüsten in Europa.
[14] Peter Gauweiler am 5. Januar 2007 im Interview auf DeutschlandRadio Kultur: US-Politik auf dem Irrweg.
Sonntag, 4. März 2007
»Die Flucht«: Volk ohne (Gedenk-) Raum
Die Deutschen inszenieren sich als Opfer: Ob in Dokudramen wie »Der Untergang« oder »Dresden«, ob in Buchform wie Jörg Friedrichs »Der Brand« oder Günter Grass´ »Im Krebsgang«. Mit dem ARD-Zweiteiler »Die Flucht« erreicht die Debatte eine neue Qualität. Absichtsvoll vergessen bleiben dabei die ersten Opfer von Flucht und Vertreibung: Es waren Juden, die den Deutschen nicht mehr als Deutsche galten.
»Der Exodus jüdischer und linker Künstler und Intellektueller aus Deutschland«, so beginnt Saul Friedländer sein Werk »Das Dritte Reich und die Juden«, »begann in den ersten Monaten des Jahres 1933, fast unmittelbar nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler am 30. Januar. Der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin verließ am 18. März Berlin, um nach Paris zu gehen.« Flucht und Vertreibung, so führt Friedländer aus, standen schon ganz am Anfang des Nationalsozialismus. Die Odyssee endete oft tödlich; Benjamin selbst starb in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 an der französisch-spanischen Grenze wohl durch eigene Hand, um der Auslieferung an die Deutschen zu entgehen. Zug um Zug wurden im Deutschland der Deutschen Juden ihrer politischen, ihrer ökonomischen, ihrer sozialen Existenz beraubt. Wer dieser Situation überhaupt noch zu fliehen vermochte, es beispielsweise nach Amerika oder Palästina schaffte, hatte oft nur seine nackte physische Existenz gerettet. Sechs Millionen Juden konnten nicht fliehen, sie wurden ermordet. Fragmente der individuellen Geschichten der Opfer hat Saul Friedländer aufgeschrieben, und ihnen den geschichtlichen Rahmen gegeben: nämlich mit einer Volksgemeinschaft konfrontiert zu sein, deren kollektiver Antisemitismus zum Massenmord führte, deren heute so massenhaft postulierter antifaschistischer Widerstand sich, wenn er nicht gänzlich nachträglich rechtfertigende Lüge ist, zumeist auf stille Duldung oder innere Emigration beschränkte.
Dies alles kann nicht als Geschichte in Daten, Dokumenten und Zahlen erledigt werden. Wenn eine solche Geschichte nämlich sich von individuellem Erleben, Entscheiden, Handeln und auch Leiden dispensiert, wenn sie mit Abstraktion, Typologie und Numerik auszukommen glaubt, von der anachronistischen Vorstellung einer Geschichte als dem Handeln weniger Großer ganz zu schweigen, dann kann sie viel zu erklären versuchen: aufzuklären vermag sie nicht. Denn Aufklärung ist eben nicht, und das wurde von Immanuel Kant bis Max Horkheimer immer wieder betont, bloße Akkumulation von Daten und von Fakten, von nur vermeintlichem Wissen, sondern die In-Beziehung-Setzung des Gewussten zum wissenden Subjekt selbst. Aufklärung bedeutet immer auch eine Veränderung des sich selbst aufklärenden Subjekts. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist eine Unmöglichkeit, die Aufklärung über das Vergangene in beschriebenem Sinne aber durchaus möglich. Wird sie nicht gewagt, so ist sie nicht gewollt.
Es kann nicht darum gehen, wie jüngst Gerhard Scheit darlegte [1], positivistisch zu dokumentieren, sondern Geschichte »im Eingedenken« zu bezeugen, »die Erfahrungen und die Hoffnung der Opfer kontinuierlich den Handlungen und dem Bewusstsein der Täter entgegenzusetzen«. Das allerdings ist die notwendige Zumutung für jedes sich damit auseinandersetzende Subjekt: Sapere aude! Saul Friedländers zweibändige Geschichte »Das Dritte Reich und die Juden« ist eben eine solche Zumutung. Dies ist in der geschichtswissenschaftlichen Literatur äußerst selten; vielmehr ist diese oft von einer eiseskalten Empathielosigkeit geprägt; weder die Statistik noch die politischen und historischen Kategorien und Theorien vermögen den Leser in die Auseinandersetzung – letztlich mit sich selbst – zu zwingen; eine solche Literatur tendiert mit einiger Notwendigkeit dazu, das Grauen wissenschaftlich zu erklären, mithin zu rationalisieren.
Anders als im akademischen wird im öffentlichen politischen und medialen Raum die Geschichte zunehmend entkontextualisiert; die Zurschaustellung reiner Betroffenheit gilt als das probate Instrument der deutschen Vergangenheitsbewältigung. So wird das nachträgliche Mitleiden mit den Opfern durch die Täterkinder inszeniert, es hat kathartischen Effekt für die Mitleidenden und ist darin höchst egozentrisch. Beispielhaft mag hier das Ritual um Anne Frank gelten (ein Kind, ein unschuldiges), ohne dass sich noch ernsthaft mit der Frage zu quälen wäre, warum das Grauen dem Kinde geschah. So wird aus der deutschen Tat ein banalisiertes und universalisiertes Böses. Und dieses ist – weil entkontextualisiert – auf andere Kontexte nur zu leicht übertragbar.
Diese scharfe Scheidung in empathielose und darum absichtsvoll moralfreie Geschichtsschreibung in der Wissenschaft und in geschichtsloses Moralisieren und vorgebliches Mitleiden im öffentlichen politischen und medialen Raum, ist problematisch schon von Grunde auf. Sowohl das Verschwinden von konkreten Opfern und Tätern, also die Tilgung der Subjekte im Rahmen dessen, was sich als Geschichtswissenschaft ausgibt, als auch der im öffentlichen Gedenken institutionalisierte Kontextverlust, der nur Betroffenheit noch kennt, befördern die deutsche Täter-Opfer-Verdrehung der letzten Jahre, wie sie schließlich auch im Dokudrama »Die Flucht« evident ist.
Ganze siebzig Sekunden leistet sich der Film als »kontextualisierenden« Vorspann in schwarzweiß. Die bekannten Bilder von Hitler, von Bomben auf deutsche Städte, vom Ostwall – sie wirken wie die politisch korrekte Vorübung zum vorgeblichen Tabubruch, über deutsches Leiden zu erzählen. »Das Pendel des von Hitler entfachten Vernichtungskrieges schlägt zurück«, so wird der Zuschauer noch flugs ins Bild gebracht. Das reicht aus, das ist es, was man von Geschichte hier noch zu wissen hat. Offenkundig ist das nachholende Mitleiden der deutschen Täterkinder für die jüdischen Opfer – im Ansatz schon bar des kritischen Bewussteins für die Geschichte – inzwischen auch Vergangenheit. Juden kommen – wie heute in den Inszenierungen vom »Der Untergang« bis »Die Flucht« üblich – praktisch nicht mehr vor; sie sind gänzlich aus dem Bild geraten. Das Opfer-Sein wird zu einer kollektiven Kategorie aufgrund individuellen Erlebens von Schmerz und Verlust umgedeutet, ohne den geschichtlichen Hintergrund noch kritisch ausbreiten zu müssen. Damit vermögen sich die Deutschen nunmehr als Opfer in Szene zu setzen.
In der üblichen Behauptung, das eine Leiden, das deutsche nämlich, nicht mit dem anderen aufrechnen zu wollen, ist die halbe Volte der Neudeutung von Geschichte bereits gelungen: Leiden als Schicksal hier wie dort; und wo von Schicksal die Rede ist, wird nach dem Grund, nach der Bedeutung individuellem Handelns, nach kollektiver Verantwortung und individueller Schuld kaum mehr gefragt. Doch: Wo überall nur noch Opfer sind, da drängt sich die Frage auf, wer die Taten dann überhaupt beging?
Mit dem auffällig penetranten Verweis auf die eigenen Zahlen – so seien über 14 Millionen Deutsche am Ende des Zweiten Weltkrieges von Flucht und Vertreibung betroffen gewesen – desavouiert sich die Behauptung, das Leiden nicht aufrechnen zu wollen, selbst. Ob in Literatur oder filmischem Dokudrama: Schmerz und Verlust der Deutschen werden in Form individueller Tragödien gezeichnet und in den Bildern höchst emotional aufgeladen. Wird den Opfern der Shoa zunehmend die Empathie versagt – man glaubt diesbezüglich in sechzig Jahren genug geleistet zu haben – so wird sie nun den Deutschen zuteil, deren Leiden so eindringlich illustriert wird, dass nur ein Unmensch, so mag es erscheinen, kein Mitgefühl empfinden kann.
Es ist noch einigermaßen nachvollziehbar, da Deutsche bei der Flucht aus dem Osten tatsächlich bittere Not litten, wenn die damals Betroffenen die Erinnerung daran nicht tilgen wollen und wohl auch nicht können. Dies gilt erst recht in jenen seltenen Fällen, da jemand individuell nicht in Haftung für das deutsche Verbrechen genommen werden kann, weil er vielleicht wirklich nicht zu den Nazis hielt, und doch die Konsequenzen mit zu tragen hatte. Doch es ist ein Unterschied ums Ganze, wenn aus dem individuellen Erleben und Erinnern, wenn aus individuellem Schmerz und Verlust eine kollektive Identität des Opfer-Seins konstruiert wird, wenn sich dies erst innerhalb der Familien über die Generationen vermittelt, um dann als nationales Schicksal zum ebenso offiziösen wie falschen Geschichtsbewusstsein zu werden. Aus der ursprünglich festzustellenden Geschichts- und Politikvergessenheit konstituiert sich dann eine neue Geschichte, leiten sich neue politische Ansprüche ab.
So begrüßt nun beispielsweise die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann die Ausstrahlung des ARD-Zweiteilers »Die Flucht« als »wichtige Form der Vergangenheitsbewältigung« und stellt in diesem Zusammenhang klar: Frieden und Versöhnung seien erst möglich, wenn Täter Schuld bekennen und die Schicksale der Opfer gehört werden. [2] Hier ist die Täter-Opfer-Verkehrung vollendet. Was im Familiengespräch bereits vorweg genommen wurde, ist jetzt auch im öffentlichen politischen Raum opportun.
Der Film »Die Flucht« wird, so ist anzunehmen, seine Wirkung erzielen: Wie sehr hier allein auf Emotionen abgezielt wird, und damit neue Opferbilder inszeniert werden, bezeugt Maria Furtwängler, laut BILD »die schöne ›Tatort‹-Kommissarin«, die »als flüchtende Gräfin Lena von Mahlenberg im erschütterndsten Film des Jahres« spielt, im Interview [3]: »Ja, als ich das spielen musste, habe ich sehr geweint.« Die Furtwängler leidet am Set stellvertretend für die einst Geflüchteten, stellvertretend für deren Kinder und Kindeskinder, die sich doch qua Geburt noch als Opfer von Flucht und Vertreibung imaginieren. Für jene Zeit, da laut BILD »Zehntausende deutscher Flüchtlinge unter dem Beschuss russischer Tiefflieger, durch Erfrieren und Ertrinken den Tod gefunden haben«, findet die Schauspielerin die entsprechenden Worte: »unendlich erschütternd«, »beklemmend«, »Augenzeugenberichte ... von toten Babys, die wie Puppen links und rechts des Weges lagen«. Sie spürte am Set ein »körperliches Erleben«: »Diese brutale Kälte. Minus 15 Grad. Beim Atmen klebten die Nasenflügel zusammen. Innerhalb von fünf Minuten waren Füße und Hände taub...« Am Ende, so erhellt sie, »verwischte sich für Augenblicke die Grenze zwischen Fiktion und Realität«. Und genau darum, wenn auch nicht nur »für Augenblicke«, geht es doch recht eigentlich bei der inszenierten Täter-Opfer-Verkehrung.
In einer Pressemitteilung der deutschen Bundesregierung gibt sich Kulturstaatsminister Bernd Neumann zufrieden, »dass die Thematik Flucht und Vertreibung auch vom Fernsehen aufgegriffen und einem breiten Publikum vor Augen geführt wird«, denn: »Auch über 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs ist die Problematik von Flucht und Vertreibung aktuell geblieben.« [4] Was dies zu bedeuten hat, welche aktuelle politische Dimension dieses neudeutsche Geschichtsverständnis besitzt, benennt die Furtwängler, der hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann folgend, ganz konkret: »Putin soll sich entschuldigen!« [5]
Bisher galt noch: »Wir haben uns in Deutschland sehr schwer getan, die Deutschen als Opfer zu zeigen.« Das, soviel scheint sicher, ist nun vorbei. Die ersten, ja die wirklichen Opfer von Flucht und Vertreibung, sie werden darüber absichtsvoll vergessen. Denn nur durch diesen Akt der Verdrängung und Verdrehung wird der (Gedenk-) Raum geschaffen, den sich das deutsche Volk schon lang ersehnt.
[1] http://jungle-world.com/seiten/2007/09/9468.php
[2] http://www.netzeitung.de/medien/567851.html
[3] BILD: »Ich habe sehr geweint...«
[4] Presseerklärung der Bundesregierung
[5] BILD: Putin soll sich entschuldigen
»Der Exodus jüdischer und linker Künstler und Intellektueller aus Deutschland«, so beginnt Saul Friedländer sein Werk »Das Dritte Reich und die Juden«, »begann in den ersten Monaten des Jahres 1933, fast unmittelbar nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler am 30. Januar. Der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin verließ am 18. März Berlin, um nach Paris zu gehen.« Flucht und Vertreibung, so führt Friedländer aus, standen schon ganz am Anfang des Nationalsozialismus. Die Odyssee endete oft tödlich; Benjamin selbst starb in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 an der französisch-spanischen Grenze wohl durch eigene Hand, um der Auslieferung an die Deutschen zu entgehen. Zug um Zug wurden im Deutschland der Deutschen Juden ihrer politischen, ihrer ökonomischen, ihrer sozialen Existenz beraubt. Wer dieser Situation überhaupt noch zu fliehen vermochte, es beispielsweise nach Amerika oder Palästina schaffte, hatte oft nur seine nackte physische Existenz gerettet. Sechs Millionen Juden konnten nicht fliehen, sie wurden ermordet. Fragmente der individuellen Geschichten der Opfer hat Saul Friedländer aufgeschrieben, und ihnen den geschichtlichen Rahmen gegeben: nämlich mit einer Volksgemeinschaft konfrontiert zu sein, deren kollektiver Antisemitismus zum Massenmord führte, deren heute so massenhaft postulierter antifaschistischer Widerstand sich, wenn er nicht gänzlich nachträglich rechtfertigende Lüge ist, zumeist auf stille Duldung oder innere Emigration beschränkte.
Dies alles kann nicht als Geschichte in Daten, Dokumenten und Zahlen erledigt werden. Wenn eine solche Geschichte nämlich sich von individuellem Erleben, Entscheiden, Handeln und auch Leiden dispensiert, wenn sie mit Abstraktion, Typologie und Numerik auszukommen glaubt, von der anachronistischen Vorstellung einer Geschichte als dem Handeln weniger Großer ganz zu schweigen, dann kann sie viel zu erklären versuchen: aufzuklären vermag sie nicht. Denn Aufklärung ist eben nicht, und das wurde von Immanuel Kant bis Max Horkheimer immer wieder betont, bloße Akkumulation von Daten und von Fakten, von nur vermeintlichem Wissen, sondern die In-Beziehung-Setzung des Gewussten zum wissenden Subjekt selbst. Aufklärung bedeutet immer auch eine Veränderung des sich selbst aufklärenden Subjekts. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist eine Unmöglichkeit, die Aufklärung über das Vergangene in beschriebenem Sinne aber durchaus möglich. Wird sie nicht gewagt, so ist sie nicht gewollt.
Es kann nicht darum gehen, wie jüngst Gerhard Scheit darlegte [1], positivistisch zu dokumentieren, sondern Geschichte »im Eingedenken« zu bezeugen, »die Erfahrungen und die Hoffnung der Opfer kontinuierlich den Handlungen und dem Bewusstsein der Täter entgegenzusetzen«. Das allerdings ist die notwendige Zumutung für jedes sich damit auseinandersetzende Subjekt: Sapere aude! Saul Friedländers zweibändige Geschichte »Das Dritte Reich und die Juden« ist eben eine solche Zumutung. Dies ist in der geschichtswissenschaftlichen Literatur äußerst selten; vielmehr ist diese oft von einer eiseskalten Empathielosigkeit geprägt; weder die Statistik noch die politischen und historischen Kategorien und Theorien vermögen den Leser in die Auseinandersetzung – letztlich mit sich selbst – zu zwingen; eine solche Literatur tendiert mit einiger Notwendigkeit dazu, das Grauen wissenschaftlich zu erklären, mithin zu rationalisieren.
Anders als im akademischen wird im öffentlichen politischen und medialen Raum die Geschichte zunehmend entkontextualisiert; die Zurschaustellung reiner Betroffenheit gilt als das probate Instrument der deutschen Vergangenheitsbewältigung. So wird das nachträgliche Mitleiden mit den Opfern durch die Täterkinder inszeniert, es hat kathartischen Effekt für die Mitleidenden und ist darin höchst egozentrisch. Beispielhaft mag hier das Ritual um Anne Frank gelten (ein Kind, ein unschuldiges), ohne dass sich noch ernsthaft mit der Frage zu quälen wäre, warum das Grauen dem Kinde geschah. So wird aus der deutschen Tat ein banalisiertes und universalisiertes Böses. Und dieses ist – weil entkontextualisiert – auf andere Kontexte nur zu leicht übertragbar.
Diese scharfe Scheidung in empathielose und darum absichtsvoll moralfreie Geschichtsschreibung in der Wissenschaft und in geschichtsloses Moralisieren und vorgebliches Mitleiden im öffentlichen politischen und medialen Raum, ist problematisch schon von Grunde auf. Sowohl das Verschwinden von konkreten Opfern und Tätern, also die Tilgung der Subjekte im Rahmen dessen, was sich als Geschichtswissenschaft ausgibt, als auch der im öffentlichen Gedenken institutionalisierte Kontextverlust, der nur Betroffenheit noch kennt, befördern die deutsche Täter-Opfer-Verdrehung der letzten Jahre, wie sie schließlich auch im Dokudrama »Die Flucht« evident ist.
Ganze siebzig Sekunden leistet sich der Film als »kontextualisierenden« Vorspann in schwarzweiß. Die bekannten Bilder von Hitler, von Bomben auf deutsche Städte, vom Ostwall – sie wirken wie die politisch korrekte Vorübung zum vorgeblichen Tabubruch, über deutsches Leiden zu erzählen. »Das Pendel des von Hitler entfachten Vernichtungskrieges schlägt zurück«, so wird der Zuschauer noch flugs ins Bild gebracht. Das reicht aus, das ist es, was man von Geschichte hier noch zu wissen hat. Offenkundig ist das nachholende Mitleiden der deutschen Täterkinder für die jüdischen Opfer – im Ansatz schon bar des kritischen Bewussteins für die Geschichte – inzwischen auch Vergangenheit. Juden kommen – wie heute in den Inszenierungen vom »Der Untergang« bis »Die Flucht« üblich – praktisch nicht mehr vor; sie sind gänzlich aus dem Bild geraten. Das Opfer-Sein wird zu einer kollektiven Kategorie aufgrund individuellen Erlebens von Schmerz und Verlust umgedeutet, ohne den geschichtlichen Hintergrund noch kritisch ausbreiten zu müssen. Damit vermögen sich die Deutschen nunmehr als Opfer in Szene zu setzen.
In der üblichen Behauptung, das eine Leiden, das deutsche nämlich, nicht mit dem anderen aufrechnen zu wollen, ist die halbe Volte der Neudeutung von Geschichte bereits gelungen: Leiden als Schicksal hier wie dort; und wo von Schicksal die Rede ist, wird nach dem Grund, nach der Bedeutung individuellem Handelns, nach kollektiver Verantwortung und individueller Schuld kaum mehr gefragt. Doch: Wo überall nur noch Opfer sind, da drängt sich die Frage auf, wer die Taten dann überhaupt beging?
Mit dem auffällig penetranten Verweis auf die eigenen Zahlen – so seien über 14 Millionen Deutsche am Ende des Zweiten Weltkrieges von Flucht und Vertreibung betroffen gewesen – desavouiert sich die Behauptung, das Leiden nicht aufrechnen zu wollen, selbst. Ob in Literatur oder filmischem Dokudrama: Schmerz und Verlust der Deutschen werden in Form individueller Tragödien gezeichnet und in den Bildern höchst emotional aufgeladen. Wird den Opfern der Shoa zunehmend die Empathie versagt – man glaubt diesbezüglich in sechzig Jahren genug geleistet zu haben – so wird sie nun den Deutschen zuteil, deren Leiden so eindringlich illustriert wird, dass nur ein Unmensch, so mag es erscheinen, kein Mitgefühl empfinden kann.
Es ist noch einigermaßen nachvollziehbar, da Deutsche bei der Flucht aus dem Osten tatsächlich bittere Not litten, wenn die damals Betroffenen die Erinnerung daran nicht tilgen wollen und wohl auch nicht können. Dies gilt erst recht in jenen seltenen Fällen, da jemand individuell nicht in Haftung für das deutsche Verbrechen genommen werden kann, weil er vielleicht wirklich nicht zu den Nazis hielt, und doch die Konsequenzen mit zu tragen hatte. Doch es ist ein Unterschied ums Ganze, wenn aus dem individuellen Erleben und Erinnern, wenn aus individuellem Schmerz und Verlust eine kollektive Identität des Opfer-Seins konstruiert wird, wenn sich dies erst innerhalb der Familien über die Generationen vermittelt, um dann als nationales Schicksal zum ebenso offiziösen wie falschen Geschichtsbewusstsein zu werden. Aus der ursprünglich festzustellenden Geschichts- und Politikvergessenheit konstituiert sich dann eine neue Geschichte, leiten sich neue politische Ansprüche ab.
So begrüßt nun beispielsweise die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann die Ausstrahlung des ARD-Zweiteilers »Die Flucht« als »wichtige Form der Vergangenheitsbewältigung« und stellt in diesem Zusammenhang klar: Frieden und Versöhnung seien erst möglich, wenn Täter Schuld bekennen und die Schicksale der Opfer gehört werden. [2] Hier ist die Täter-Opfer-Verkehrung vollendet. Was im Familiengespräch bereits vorweg genommen wurde, ist jetzt auch im öffentlichen politischen Raum opportun.
Der Film »Die Flucht« wird, so ist anzunehmen, seine Wirkung erzielen: Wie sehr hier allein auf Emotionen abgezielt wird, und damit neue Opferbilder inszeniert werden, bezeugt Maria Furtwängler, laut BILD »die schöne ›Tatort‹-Kommissarin«, die »als flüchtende Gräfin Lena von Mahlenberg im erschütterndsten Film des Jahres« spielt, im Interview [3]: »Ja, als ich das spielen musste, habe ich sehr geweint.« Die Furtwängler leidet am Set stellvertretend für die einst Geflüchteten, stellvertretend für deren Kinder und Kindeskinder, die sich doch qua Geburt noch als Opfer von Flucht und Vertreibung imaginieren. Für jene Zeit, da laut BILD »Zehntausende deutscher Flüchtlinge unter dem Beschuss russischer Tiefflieger, durch Erfrieren und Ertrinken den Tod gefunden haben«, findet die Schauspielerin die entsprechenden Worte: »unendlich erschütternd«, »beklemmend«, »Augenzeugenberichte ... von toten Babys, die wie Puppen links und rechts des Weges lagen«. Sie spürte am Set ein »körperliches Erleben«: »Diese brutale Kälte. Minus 15 Grad. Beim Atmen klebten die Nasenflügel zusammen. Innerhalb von fünf Minuten waren Füße und Hände taub...« Am Ende, so erhellt sie, »verwischte sich für Augenblicke die Grenze zwischen Fiktion und Realität«. Und genau darum, wenn auch nicht nur »für Augenblicke«, geht es doch recht eigentlich bei der inszenierten Täter-Opfer-Verkehrung.
In einer Pressemitteilung der deutschen Bundesregierung gibt sich Kulturstaatsminister Bernd Neumann zufrieden, »dass die Thematik Flucht und Vertreibung auch vom Fernsehen aufgegriffen und einem breiten Publikum vor Augen geführt wird«, denn: »Auch über 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs ist die Problematik von Flucht und Vertreibung aktuell geblieben.« [4] Was dies zu bedeuten hat, welche aktuelle politische Dimension dieses neudeutsche Geschichtsverständnis besitzt, benennt die Furtwängler, der hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann folgend, ganz konkret: »Putin soll sich entschuldigen!« [5]
Bisher galt noch: »Wir haben uns in Deutschland sehr schwer getan, die Deutschen als Opfer zu zeigen.« Das, soviel scheint sicher, ist nun vorbei. Die ersten, ja die wirklichen Opfer von Flucht und Vertreibung, sie werden darüber absichtsvoll vergessen. Denn nur durch diesen Akt der Verdrängung und Verdrehung wird der (Gedenk-) Raum geschaffen, den sich das deutsche Volk schon lang ersehnt.
[1] http://jungle-world.com/seiten/2007/09/9468.php
[2] http://www.netzeitung.de/medien/567851.html
[3] BILD: »Ich habe sehr geweint...«
[4] Presseerklärung der Bundesregierung
[5] BILD: Putin soll sich entschuldigen
Samstag, 3. März 2007
»Fortschrittliches« jüdisches Denken und der Neue Antisemitismus
Alvin H. Rosenfeld, Professor für Jüdische Studien und Englisch sowie Direktor des Institute for Jewish Culture and the Arts an der Indiana University hat für das American Jewish Committee einen in amerikanischen und nunmehr auch deutschen Medien vielbeachteten Essay geschrieben: »Fortschrittliches« jüdisches Denken und der Neue Antisemitismus. Rosenfelds Konklusion: Oft kommen die Argumente für die Zerschlagung des jüdischen Staates von so genannten »fortschrittlichen« Juden - womit der Traum jedes Antisemiten wahr wird.
Nicht zuletzt in Deutschland, so darf ergänzt werden, etabliert sich ein »koscherer« Antisemitismus unter Berufung auf jüdische Kronzeugen; so verweisen radikale Antizionisten und andere Antisemiten nur zu gern auf Uri Avnery, Norman Finkelstein oder Alfred Grosser, um ihr antiisraelisches und antijüdisches Ressentiment zu rechtfertigen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors hat Sue Bürger den Text ins Deutsche übertragen, der Ende März mit einem Vorwort von Leon de Winter in der Edition Pacific Palisades im Ölbaum-Verlag erscheint. Wir dokumentieren vorab den Text von Alvin H. Rosenfeld, der zudem auch als PDF-Dokument verfügbar ist.
»Fortschrittliches« jüdisches Denken und der Neue Antisemitismus
»Der deutsche Faschismus kam und ging. Der Sowjet-Kommunismus kam und ging. Der Antisemitismus kam und blieb.« [1] Mit diesen scharfsinnigen Worten reagierte Rabbi Jonathan Sacks, der Oberrabbiner von Großbritannien, auf die Rede von Mahmud Ahmadinedjad, in der der Präsident des Iran Israel als einen »Schandfleck« bezeichnete, der »von der Weltkarte getilgt« werden solle. Einige Tage nach seiner Brandrede legte der iranische Führer noch einmal nach und bezeichnete den Holocaust als einen »Mythos«, ein »Ammenmärchen«. [2] Schockiert von einem solch unverfrorenen Ausbruch antisemitischer Gehässigkeiten, gestand Rabbi Sacks, dass die Wiederkehr des Antisemitismus »eines der erschreckendsten Erlebnisse meines Lebens ist, da dies nach sechzig Jahren Holocaust Education, antirassistischer Gesetzgebung und interreligiösen Dialogs geschah«.
Angesichts eines so verstörenden Trends wird sich dieser Essay mit zwei Fragen beschäftigen. Erstens: Was, wenn überhaupt, ist eigentlich neu am »Neuen« Antisemitismus? Zweitens: In welcher Art und Weise tragen Juden selbst, insbesondere so genannte »fortschrittliche« Juden, zu dem intellektuellen und politischen Klima bei, das eine solche Feindseligkeit unterstützt, besonders in ihrer antizionistischen Ausformung? [3] Vor der eingehenden Untersuchung dieser Fragestellungen sollten wir jedoch einen Blick auf jene Entwicklungen werfen, die diese Fragen überhaupt erst aufgeworfen haben.
Antisemitische Erscheinungsformen in der muslimischen Welt
Innerhalb der letzten Jahre hat sich eine türkische Neuübersetzung von Adolf Hitlers Mein Kampf in Istanbul und anderen türkischen Städten verkauft wie warme Semmeln. Die Popularität von Hitlers Hetzreden gegen die Juden ist so groß, dass elf Verleger sie derzeit im Programm haben. Mehr noch: Die Buchläden können bezeichnenderweise nicht mit der Nachfrage mithalten. Neuauflagen von Mein Kampf erschienen auch im Libanon und in Saudi Arabien, ja, das Buch ist als arabische Übersetzung sogar in Londoner Buchläden erhältlich. [4] Die augenscheinliche Anziehungskraft dieser widerwärtigen Schrift ist nur eines unter vielen erschreckenden Anzeichen dafür, dass die Geister von gestern wieder auferstehen.
Zur gleichen Zeit verkauft sich auch ein weiterer Klassiker der antisemitischen Literatur bestens, die Protokolle der Weisen von Zion, und dies ebenso in der Türkei wie in arabischer Übersetzung von Nordafrika bis in den Nahen Osten. Obwohl schon vor langer Zeit als Fälschung enttarnt, erfreut sich dieses Lügenmärchen über die jüdische Weltverschwörung heute in der arabischsprachigen Welt einer weiten Verbreitung.
Vor zwei Jahren konnte man die Protokolle auf einer viel besprochenen Ausstellung über religiöse Schriften in der Alexandria-Bibliothek in Ägypten sehen. Als eine der »heiligen Schriften« des Judaismus wurden die Protokolle an prominenter Stelle neben einer Torah-Rolle ausgestellt. Zu den Bestsellern im Iran zählend, konnte man sie 2005 am iranischen Stand der Internationalen Buchmesse in Frankfurt/Main auch in englischer Übersetzung finden (außerdem fanden sich dort thematisch ähnlich gelagerte Titel: Die Rolle der Juden bei der Zerstörung des World Trade Centers am 11. September, Die jüdische Weltverschwörung, Dreitausend Jahre jüdischer Frevel, Das Ende Israels etc.).
Die Vorstellung einer perfekt geplanten jüdischen Verschwörung zur Weltbeherrschung wird auch in der Charta der Hamas wiederholt. In dieser finden sich zudem die Protokolle als authentische Quelle, unter anderem um zu beweisen, dass »noch nie irgendwo auf der Welt ein Krieg ausgebrochen ist, ohne dass die Juden ihre Finger im Spiel gehabt hätten«. Darüber hinaus waren die Protokolle die Vorlage für mehrere Fernsehserien, die kürzlich in Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten gesendet wurden. Die Nachfrage nach solchen Märchen in breiten Schichten der muslimischen Welt scheint unersättlich zu sein und wird zudem noch regelmäßig von den Massenmedien angeheizt.
Auch die alte Blutlegende kommt wieder in Mode, mit geringfügigen Anpassungen hier und dort. In dieser wurde den Juden stets nachgesagt, Christenkinder zu entführen, um mit ihrem Blut Matze zu backen. In den neuen Verleumdungen werden die christlichen lediglich durch muslimische Kinder ausgetauscht. Im Iran beispielsweise wurde eine grausige Fernsehreihe ausgestrahlt, in der gezeigt wurde, wie jüdische Chirurgen palästinensischen Kindern die Augäpfel herausoperieren, um sehbehinderte Israelis zu heilen. Etwas abgewandelt findet man diesen Topos im kürzlich erschienenen türkischen Film Tal der Wölfe – Irak, der von einer signifikanten Anzahl Migranten in Deutschland und andernorts gesehen wurde. In diesem Film sieht man einen jüdisch-amerikanischen Chirurgen, der Gefängnisinsassen Organe entnimmt, die für Transplantationen in New York, London und Israel vorgesehen sind. [5]
Den weit verbreiteten Glauben, clevere israelische Wissenschaftler hätten Yassir Arafat tödliche Gifte injiziert, die seinen Tod verursachten, kann man ebenfalls als modernisierte Form dieser alten Legende ansehen. Israelische Doktoren werden zudem beschuldigt, heimlich und absichtlich den AIDS-Virus in der muslimischen Welt zu verbreiten. Als weiterer Beweis ihrer Boshaftigkeit wird angeführt, sie hätten die Vogelgrippe erzeugt und verbreitet, um »Gene, die nur Araber tragen« [6], zu schädigen. Darüber hinaus gibt es die Vorstellung, dass die Israelis junge Ägypter sterilisieren, indem sie Kaugummis heimlich Gift beimischen, und dass sie palästinensische Wasserquellen mit ähnlichen Mitteln vergiften. Das uralte antisemitische Stereotyp des Juden als Brunnenvergifter wird so, um einige moderne Nuancen ergänzt, in das Technologiezeitalter transformiert.
Als ob diese imaginierten Verbrechen nicht schon schlimm genug wären, werden die Terroranschläge vom Elften September gemeinhin dem Mossad zugeschrieben, ja, sogar das Erdbeben und der folgende Tsunami, der Teile Asiens zerstörte, seien angeblich Teile einer üblen Verschwörung seitens der Juden gewesen. Laut eines iranischen Fernsehprogramms aus dem Juni 2004 haben die Juden nicht nur Richard Nixon in die Falle von Watergate tappen lassen, sondern waren auch schon vorher in die Ermordung von Präsident John F. Kennedy verwickelt. Erst kürzlich beschuldigte der Dekan der Juristischen Fakultät einer jordanischen Universität den israelischen Geheimdienst der Ermordung des libanesischen Führers Rafik Hariri und des prominenten libanesischen Journalisten Jebran Tueni. Und obwohl die Israelis rein gar nichts mit den dänischen Karikaturen zu tun hatten, die im Februar 2006 einen Aufstand in der arabischen und muslimischen Welt auslösten, wurden diese einer »zionistischen Verschwörung« zugeschrieben. [7] Zahllose andere Beispiele könnten dieser Aufzählung angeblicher jüdischer Missetaten hinzugefügt werden. Es genügt anzunehmen, dass die Liste so lang würde, wie die Behauptungen fantastisch und erlogen sind. Ungeachtet unserer Bestürzung, dass rational denkende Menschen solchen Lügen Glauben schenken, müssen wir uns doch vor Augen halten, dass es zahllose Menschen in der muslimischen Welt gibt, die genau dies tun. Sie nehmen das Geflecht von erfundenen Anschuldigungen gegen die Juden für bare Münze. Mehr noch: Sie halten es für eine gesicherte, überprüfbare Wahrheit, dass die Juden von heute das sind, was sie angeblich schon seit Menschengedenken waren: betrügerische, hinterhältige, nicht vertrauenswürdige, böse, allmächtige und unerbittlich feindlich gesinnte Menschen, ewige Gegenspieler nicht nur der Menschheit, sondern auch Gottes.
Damit nicht der Eindruck entsteht, dass es Antisemitismus in dieser extremen Ausprägung nur in der muslimischen Welt gibt, ist es wichtig zu erkennen, was in den letzten fünf oder sechs Jahren in der westlichen Welt geschehen ist. Mein Kampf gehört zwar nicht zu den Bestsellern in den europäischen Buchläden, dennoch erschienen neue Übersetzungen auf Polnisch, Tschechisch und in anderen Sprachen. Und damit nicht genug: Adolf Hitler ist weiterhin eine Quelle der Inspiration für Gruppierungen der europäischen Rechten, von denen sich einige von den verrufenen Rändern der Politik in die respektable Mitte bewegen, so in Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien und in einigen ehemaligen Staaten der Sowjetunion. Zeitgleich fing die intellektuelle Elite der europäischen Linken an, ihre Antipathie gegenüber Juden und dem jüdischen Staat lautstark zu artikulieren, in einer Art und Weise, die in Europa lange Zeit nicht zu hören war. Und schließlich gibt es bekanntlich innerhalb der großen muslimischen Bevölkerung jene, die von den Ideen der Djihadisten radikalisiert wurden und deren antagonistischen Energien sich aggressiv gegen Juden richten.
Interessengeflechte: Erscheinungsformen des Antisemitismus in Europa
Eine Manifestation des neuen Antisemitismus ist genau hier zu finden – in einer Verschmelzung der Interessen des rechten Randes, einiger Teile der intellektuellen Linken und des radikalen Islams. Zwar gibt es noch keine formalen Allianzen zwischen diesen sonst so verschiedenen Gruppierungen, aber sie teilen ein Gemeinsames: die Abneigung gegenüber Juden und insbesondere eine ausgeprägte Antipathie gegen den jüdischen Staat. Aus dieser Abneigung hat sich eine von Ressentiments und Feindseligkeiten geprägte, aggressive Stimmung entwickelt, die im Laufe der letzten Jahre zu einer Häufung hinreichend dokumentierter Straftaten führte: Juden wurden auf offener Straße verprügelt, Synagogen, jüdische Schulen und andere jüdische Einrichtungen in Brand gesteckt oder anderweitig attackiert, jüdische Friedhöfe und Holocaust-Mahnmale wiederholt geschändet, ja, die jüdischen Einwohner von Paris, London, Brüssel, Amsterdam und anderen Städten leben in Bezug auf ihr Wohlergehen heute in einer größeren Unsicherheit, als sie dies in den vergangenen Jahrzehnten taten.
Im Jahr 2004 wurden allein in Großbritannien 532 antisemitische Vorfälle gezählt, wovon 83 körperliche Angriffe gegen Einzelpersonen zur Anzeige gebracht wurden – ein Anstieg von 42% im Vergleich zum Vorjahr. 2005 sank zwar die Gesamtzahl der antisemitischen Vorkommnisse geringfügig; dennoch blieb die Zahl der körperlichen Angriffe mit 82 auf einem stabilen Hoch. Angesichts dieser Feindseligkeiten hat Rabbi Sacks auf immer offensichtlicher werdende antisemitische Untertöne in seinem Land hingewiesen und mit einem gewissen diplomatischen Understatement hinzugefügt: »Wir leben in einer Zeit – die erste, seit ich mich erinnern kann –, in der es nicht einfach ist, ein Jude in Großbritannien zu sein.«
In Frankreich sank in den letzten Monaten die Anzahl der Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen. Dies ist auf den zwar verspäteten, aber durchaus effektiven Ansatz der französischen Behörden zurückzuführen, derartige Feindseligkeiten auch wirklich ernst zu nehmen. Doch trotz dieser Bemühungen bleibt das Klima in den gemischten jüdisch-muslimischen Vierteln rund um Paris weiterhin sehr angespannt. Insbesondere nach der durch die Medien bekannt gewordenen Entführung, Misshandlung und Ermordung von Ilan Halimi im Februar 2006 liegen die Nerven der französischen Juden blank. Der Fall Halimi ist besonders erschreckend, doch eben leider kein Einzelfall. Fakt ist, dass seit 2001 in Frankreich mehr Angriffe auf Juden und jüdischen Besitz verzeichnet worden sind als in allen anderen europäischen Staaten. Die Situation eskalierte sogar so weit, dass der französische Oberrabbiner Juden öffentlich davor warnte, die Kippa oder andere religiöse Symbole, die sie als Juden identifizierbar machen könnten, auf der Straße zu tragen. Er tat dies aus gutem Grund: In Brüssel wurde der belgische Oberrabbiner auf offener Straße zusammengeschlagen, und in Frankreich wurden religiöse Juden fast täglich beleidigt und bedroht. Nur wenige Tage nach dem Tod von Halimi wurden drei Juden, darunter der Sohn eines Rabbis, auf den Straßen von Sarcelles von einer Gruppe muslimischer Jugendlicher brutal angegriffen. Ähnliche Attacken wurden seitdem aus dem ganzen Land gemeldet.
Parallel dazu veröffentlichen die Massenmedien ständig gegen den jüdischen Staat und seine Unterstützer gerichtete Verunglimpfungen, Verhöhnungen und Zurechtweisungen; zwangsläufig begleiten negative gesellschaftliche und politische Konsequenzen diese andauernde verbale Aggression. Der Bürgermeister von London, Ken Livingston, bezichtigte letztes Jahr in einem bedeutenden Artikel des Guardian Israel ohne Umschweife der »ethnischen Säuberungen« und bezeichnete Israels Premierminister Ariel Sharon als »Terroristen« und »Kriegsverbrecher«, der hinter Gitter, nicht aber in ein politisches Amt gehöre.
Im selben Geiste verkündete 2005 die britische Association of University Teachers mit ihren 40.000 Mitgliedern einen Boykott gegenüber israelischen Dozenten und israelischen akademischen Institutionen. Dieser wurde zwar zurückgenommen, aber nur, um im Mai 2006 von der 67.000 Mitglieder starken National Association of Teachers in Further and Higher Education durch einen noch umfassenderen Boykott ersetzt zu werden. Dieser Boykott wandte sich gegen »Israels Apartheidpolitik« und forderte britische Akademiker auf, ihre Zusammenarbeit mit ihren israelischen Kollegen zu beenden. Im Februar 2006 rief eine Gruppe britischer Architekten zu einem strengen Boykott gegen israelische Architekten auf, und zur gleichen Zeit veröffentlichte die »Kirche von England« eine Erklärung, die empfahl, sich von Firmen abzuwenden, die Geschäftsbeziehungen zu Israel unterhalten. Ähnliche Maßnahmen gegen israelische Waren wurden auch in skandinavischen Ländern gefordert und teilweise durchgesetzt.
Zu ihrer Ehrenrettung muss man den deutschen Behörden attestieren, dass sie versuchten, die Feindseligkeiten gegenüber den Juden zu deckeln. Dennoch ergaben aktuelle Umfragen in Deutschland, dass die Zahl der Personen mit antisemitischen Ansichten kontinuierlich anwächst. Das Gleiche kann auch über Ressentiments gegenüber Juden in Spanien, Griechenland und Russland gesagt werden. In Russland forderten über 5.000 Aktivisten, Parlamentarier, Künstler und religiöse Würdenträger öffentlich ein Verbot sämtlicher jüdischer Organisationen und Gruppen; sie warfen ihnen Verschwörung und Vaterlandsverrat vor. Ein ähnlicher Aufruf wurde in der Ukraine von über 100 Personen des öffentlichen Lebens unterschrieben. Daher kann es nicht verwundern, dass die tätlichen Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen in diesen Ländern weiterhin zunehmen. Im Februar 2006 wurden in Taschkent ein Rabbi ermordet und auf der Krim eine Synagoge in Brand gesteckt; in anderen ehemaligen Sowjetstaaten wurden Synagogen mit Steinen beworfen oder niedergebrannt. Aus Argentinien, Brasilien und anderen südamerikanischen Ländern hört man ähnliche Berichte über antisemitische Ausfälle bis hin zu tätlichen Übergriffen. Wie wir wissen, sind selbst die Vereinigten Staaten oder Kanada nicht vollständig immun gegen eine solche Bedrohungen und gelegentliche Vorfälle.
Was ist das Neue am heutigen Antisemitismus?
Was lernen wir aus all dieser antijüdischen Feindseligkeit? Trotz des Schreckens des Holocausts, der doch, so die Hoffnung vieler Juden, das neuerliche ungehinderte öffentliche Ausleben des Antisemitismus unmöglich machen müsste, bricht sich letzterer erneut Bahn. Gibt es also einen neuen Antisemitismus? Es gibt ihn, und während das meiste auf bekannte antisemitische Stereotypen rekurriert, erscheinen einige Charakteristika der heutigen Feindseligkeit gegenüber Juden und teilweise auch gegen das Judentum selbst tatsächlich neu.
Erstens wurde der Judenhass, wie so vieles heute, globalisiert, und er überschreitet ohne Mühe Grenzen, ja, er verbindet sogar. In der Vergangenheit hatten Feindseligkeiten gegenüber Juden eher zu lokal begrenzten Aktivitäten geführt, doch Dank des Internets und anderer globaler Medien gehört der Antisemitismus heute der Allgemeinheit. Mit nur einem Tastendruck kann er der ganzen Welt zugänglich gemacht und verbreitet werden.
Zweitens greift man zwar auf das alte Repertoire erfundener Vorwürfe zurück – dass die Juden unter sich bleiben wollten, verschwörerisch, geldgierig, manipulativ und räuberisch seien –, doch ist der Antisemitismus äußerst anpassungsfähig und entwickelt sich weiter. Wie bereits beschrieben, werden die Juden als »Vergifter« verunglimpft, aber anstelle der Verschmutzung von Brunnen, wie im Mittelalter, oder der des Blutes, wie bei den Nazis, wird ihnen heute die Verunreinigung der Umwelt selbst oder die Schädigung der DNA vorgeworfen.
Drittens liegen heute die virulentesten Zentren des Antisemitismus in der muslimischen Welt; der Antisemitismus geht nicht mehr, wie in der Vergangenheit, vom Christentum aus. Obwohl ein Teil dieser aggressiven Abneigung als bloße Reaktion der muslimischen Welt auf Israels Behandlung der Palästinenser abgetan wird, so ist diese Wut doch weit älter als die letzten Intifadas, und sie speist sich aus der arabischen-muslimischen Kultur. Wer muslimischen Antisemitismus verstehen will, muss ihn sowohl als Teil einer Krise innerhalb des Islams als auch als tief empfundene Abscheu gegenüber dem Westen sehen.
Viertens, und dies ist wohl das Charakteristische des Neuen Antisemitismus: Einige der unglaublichsten Vorwürfe gegen die Juden gehen heute einher mit den bösartigsten Anschuldigungen gegen den jüdischen Staat.
Infragestellung nicht der Politik, sondern des Existenzrechts Israels
Israels Politik, jüdische Siedlungen in der Westbank und in Gaza (die 2005 vollständig aufgegeben wurden) zu unterstützen, war lange Zeit der Ausgangspunkt für hitzige Debatten; ebenso hat die manchmal schroffe Behandlung der palästinensischen Araber in diesen Gebieten negative Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Diese Politik und diese Maßnahmen zu kritisieren, ist für sich genommen noch nicht antisemitisch. Aber Israel einen Nazi-Staat oder einen Apartheidstaat zu nennen, wie es häufig getan wird, oder aber ihm ethnische Säuberungen und gar einen Genozid vorzuwerfen, sprengt jegliche Grenzen legitimer Kritik. Neben den Vereinigten Staaten, mit denen Israel von seinen Feinden fast immer in Verbindung gebracht wird, wird kein Land dieser Welt so heftig verunglimpft wie der jüdische Staat. Mehr noch: Diejenigen, die Israel als Unrechtsstaat beschimpfen, finden sich sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken, unter den Intellektuellen wie auch bei den bildungsfernen Schichten, unter Christen wie auch bei den Muslimen.
Oft gilt der Kampf nicht Israels Politik, sondern seiner Legitimität und seiner Existenz. Es geht den schärfsten Kritikern Israels schon lange nicht mehr um 1967 und um die territorialen Eroberungen nach dem militärischen Sieg im Sechstagekrieg, sondern um 1948 und die so genannte »Schandtat« beziehungsweise »Ursünde«: Es geht um die Gründung Israels an sich. In anderen Worten: Die Diskussion dreht sich nicht um Landesgrenzen, sondern um Israels Ursprung und sein Existenzrecht. Ein Merkmal des Neuen Antisemitismus ist zutiefst beunruhigend: Israel wird ausgesondert. Allein der jüdische Staat als politische Entität hat kein Recht auf Sicherheit und souveräne Existenz. Wie Jacqueline Rose, die Autorin von The Question of Zion (Princeton University Press 2005), es ausdrückt: »Die Seele dieser Nation war vom Tag der Staatsgründung an verloren.«
Eine jüdische Antizionistin: Jacqueline Rose
Rose symbolisiert ein erschütterndes Charakteristikum des Neuen Antisemitismus, und zwar die Beteiligung von Juden an diesem, insbesondere in seiner sich als Antizionismus gebärdenden Ausdrucksform. Ihr Buch ist ein erschreckend offenes Beispiel für diese Tendenz. The Question of Zion, mehr eine Anklage denn eine Untersuchung des Themas, gewidmet »der Erinnerung an Edward Said«, ist als Spiegelbild von Saids The Question of Palestine zu verstehen. Rose ist zwar fasziniert vom Zionismus, aber »angewidert« von dessen, wie sie es ausdrückt, schweren Fehltritten. »Gewalt ist das Schicksal des jüdischen Staates« (S. 124), schreibt sie, als wäre dies vom ersten Tag an vorherbestimmt gewesen. Mehr noch: Die »brutale Macht« dieses Staates habe nicht nur »Unrecht« über die Palästinenser gebracht, sondern »die moralische Bestimmung Israels« unterminiert (S. 133), die eigene »Sicherheit und das geistige Wohlergehen« gefährdet (S. 85), und sie bringe heute gar die »Sicherheit des Diaspora-Judentums in Gefahr«, indem Israel einen neuen Antisemitismus provoziere (S. xviii). Zusammengefasst sei Israel in seiner heutigen Verfasstheit »schlecht für die Juden«
(S. 154) und überhaupt für jeden anderen Menschen auf der Welt.
Rose, die sich stark auf die dubiosen Methoden der Psychohistorie beruft, beginnt ihre Analyse des Zionismus mit einem ausgedehnten Exkurs zu einer der verheerendsten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte – Shabbatai Zvi nämlich, dem angeblichen Messias aus dem siebzehnten Jahrhundert, der später vom Judentum abfiel und zum Islam übertrat –, die sie als »Proto-Zionisten« beschreibt. Überzeugt, dass es eine »direkte Linie« (S. 3) von dieser anomalen Figur bis zum heutigen Zionismus gibt, fährt sie fort, Theodor Herzl als eine Shabbatai Zvi verwandte Seele zu beschreiben. Was beide Männer, folgt man der Autorin, angetrieben habe, sei die leidenschaftliche Begeisterung gewesen, die auch den jüdischen Messianismus befeuere, den Rose mit Wahnsinn assoziiert. Zionismus, die neueste Inkanation der messianischen Raserei, speise sich aus ähnlichen Quellen: »Wir betrachten Zionismus als eine Form kollektiven Wahnsinns. « (S. 17) Und all jene, die ihn unterstützen, sind Teil einer Gruppenneurose. Ihrer Meinung nach waren alle frühen zionistischen Denker und Aktivisten von diesem Wahnsinn auf die eine oder andere Art und Weise ergriffen.
Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. Wie fast alle Geschichten des Zionismus zeigen, waren die Gründer Israels durchweg säkulare Zionisten, die religiöse Vorstellungen wie die Auserwähltheit und den Messianismus ablehnten. Die Mehrheit ihrer Nachfolger distanzierte sich ebenso von solchen Ideen und errichtete den Staat nach den pragmatischen und rationalen Grundsätzen anderer moderner Staaten. Rose aber will davon nichts wissen. Sie glaubt lieber, dass Israels Elite, inspiriert von den Auswüchsen Shabbatais und des Messianismus, die dem Zionismus immanente »latente Gewalt« auf brutale Art und Weise zum Vorschein und somit die »Tragödie« über »beide Völker in Israel-Palästina« brachte (S. xvi).
Sie benutzt gern den Ausdruck »Tragödie«, um die Sünden des Zionismus zu beschreiben, doch noch lieber sind ihr die schrillen Töne, um ihre Ablehnung auszudrücken, weshalb sie auf den Terminus »Katastrophe« zurückgreift. Dieses Wort – Katastrophe – ist, zumal in seiner ständigen Wiederholung, wohl kaum als ein neutraler Begriff im Nahostkonflikt zu verstehen, da es die Übersetzung für al nakba ist. Dieses arabische Wort steht für die Ereignisse von 1948, die den Israelis einen unabhängigen Staat brachten und den Palästinensern Niederlage und Zerteilung. Weil Rose sich stark an diese Lesart der Geschichte anpasst – »Ich glaube, die Gründung Israels führte zu einer historischen Ungerechtigkeit gegenüber den Palästinensern« (S. xvi) –, ist ihr Wortschatz zur Beschreibung des Zionismus und seiner Fehltritte durchweg negativ: »Todesqualen«, »qualvoll«, »kriegerisch«, »blutig«, »brutal«, »verheerend«, »korrupt«, »gewalttätig«, »gefährlich«, »tödlich« und »militaristisch« wechseln sich ab mit »apokalyptisch«, »blind«, »verrückt«, »trügerisch«, »schmutzig«, »dämonisch«, »fanatisch«, »wahnsinnig« und »geistig nicht zurechnungsfähig«. In diesen Worten beschrieben, wirkt der Zionismus gleichzeitig genial und albtraumhaft, rücksichtslos und wahnhaft.
Mehr noch: Rose mutmaßt, dass er diese explosive Mischung seit seinen Anfängen in sich trug: »Bei der Gründung des Zionismus wurde die Katastrophe mit eingewoben.« (S. xiv) Den meisten Akademikern widerstrebt es heute, über Nationalgeschichte in Kategorien von offenkundigem Schicksal oder ungebrochenen Kontinuitäten über die Jahrhunderte hinweg zu denken, doch Rose schreibt weniger eine tatsächliche Geschichte; vielmehr konstruiert sie einen psychopolitischen Mythos über Israels Anfänge und Entwicklung. Da es sich bei diesem Mythos um einen besonders negativen handelt, geraten die Umstände nach der Staatsgründung nur noch schlimmer. Davon überzeugt, dass die Juden Israels den Palästinensern ein nahezu unvergleichliches Los aufbürden, stellt sie die Frage aller Fragen: »Wie konnte es kommen, dass das den schlimmsten Verfolgungen ausgesetzte Volk einige der schlimmsten Verbrechen der modernen Nationalstaaten verübte?« (S. 115)
Verglichen mit den wahrlich erschreckenden Verbrechen anderer Nationalstaaten – man denke an den Sudan, Kambodscha, Slobodan Milosevics Serbien oder Augusto Pinochets Chile – sieht Israels »Akte« eigentlich relativ gut aus. Doch unter Verzicht auf jegliche vergleichende Perspektive klagt die Autorin einzig Israel an. Sie bestreitet nicht die »Legitimität des Wunsches des jüdischen Volkes nach einem sicheren Hafen« (S. 146), aber sie bereut die Form, die dieser Wunsch annahm. Rose glaubt, dass sich Israel im »Niedergang« (S. 154) befindet und offensichtlich »in Gefahr ist, sich selbst zu zerstören« (S. 155).
Zum Beweis bezichtigt sie Israel der mutwilligen Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft, die »vollständige Zerstörung der Stadt Jenin« (S. 103) im April 2002 inbegriffen. Wie so vieles in diesem fehlerhaften Buch ist diese Anschuldigung entweder ein eklatanter Fehler oder aber eine absichtliche Unterstellung. In Erwiderung palästinensischer Selbstmordattentate kämpfte die israelische Armee gegen palästinensische Extremisten in einem Flüchtlingslager neben der Stadt, wovon Jenin selbst unberührt blieb. Zu behaupten, dass die Stadt dem Erdboden gleich gemacht worden ist, ist entweder fehlende wissenschaftliche Kenntnis oder blinder Glaube – oder beides. [8]
Als ob das bisher Ausgeführte nicht schon schlimm genug wäre, greift Rose nach der ultimativen Waffe des antisemitischen Arsenals, um zu zeigen, wie verdorben der Zionismus ist – die angebliche Verbindung zwischen der jüdischen Nationalbewegung und den Nazis –, und erzählt diese durchweg haltlose Geschichte: »Es war die gleiche Wagner-Aufführung in Paris, die – unwissentlich und ohne sich vorher gekannt zu haben – sowohl von Theodor Herzl als auch von Adolf Hitler besucht wurde. Den einen inspirierte die Aufführung, den Judenstaat zu schreiben, den anderen Mein Kampf.« (S. 64f.) Einmal abgesehen davon, dass Herzl schon 1904 starb und Hitler seinen Fuß erstmals 1940 während seines triumphalen Siegeszugs in die französische Metropole setzte, ist diese Geschichte auch sonst völlig unglaubwürdig. Selbst wenn es eine historische Grundlage dafür gäbe, Hitler das Opernhaus zu einer Zeit besuchen zu lassen, als Herzl noch lebte – und eine solche gibt es einfach nicht –, so wäre Hitler doch noch ein Kind gewesen, kaum in der Lage, zu Mein Kampf inspiriert zu werden. Natürlich dürfte Rose dies gewusst haben. Warum also zieht sie diese historisch unmögliche Parallele zwischen dem Begründer des Zionismus und dem Führer der Nazi-Bewegung?
Wie um eine offensichtliche Erklärung abzuwehren, fühlt sich Rose mehr als einmal dazu berufen zu erklären, dass Israelkritik nicht gleichbedeutend sei mit Antisemitismus, und damit hat sie auch erst einmal Recht. Doch wie beurteilen wir dann ihre wiederholten Verweise auf »das Unrechtssystem Israel« (S. 115), auf dessen »Kapazität des Bösen« (S. 103), die »fundamentale Kriegslust« und immanente »Gewaltbereitschaft«; wie beurteilt man Attribute wie »hysterisch« und »wahnhaft«, wenn keine dieser verurteilungswürdigen Qualitäten verwendet werden, um Israels Nachbarstaaten zu beschreiben, die nicht gerade für ihre tolerante und friedvolle Umgangsweise bekannt sind?
Die vielen falschen Anschuldigungen und Begebenheiten deuten auf eine generelle Schieflage in der Herangehensweise an das Thema durch Jacqueline Rose. Mehrere Male äußert sie ihre Abneigung gegen »die Verbrechen, die der israelische Staat täglich im Namen des jüdischen Volkes begeht« (S. 11). Jenseits solcher Argumentationen gibt es keine einzige Stelle, an der sie sich besorgt über das Wohlergehen des jüdischen Volkes äußert. Tatsächlich zeigt Rose nur Antipathie für kollektive Identitäten jeglicher Art und für ethnische oder nationale Identitäten im Besonderen. Wie anderen Postmodernisten ist ihr das Konzept der »Nation« suspekt, und umfassende Nationalbewegungen wie der Zionismus sind ihr ein Gräuel. Wenn sie schreibt, dass »Israel sich einer Art des Nationalismus verschrieben hat, vor der Juden vormals zu fliehen gezwungen waren« (S. 83), kommt sie dem Vergleich zwischen Zionismus und deutschem Antisemitismus in seiner eliminatorischen Ausformung erneut gefährlich nahe. Wie schon bei ihrem historisch misslungenen Versuch, Herzl mit Hitler zu verbinden, sagen solch negativ konnotierte Vergleiche nichts über den Zionismus aus, sondern offenbaren allein die problematische Identität der Autorin als eine antizionistische Jüdin, konfrontiert mit der Existenz des jüdischen Staates.
Ein Genozid und die gesamte Judenheit als Komplize: Michael Neumann
Roses Unbehagen ist aber noch milde angesichts des pathologischen Furors, den andere antizionistische Juden entwickeln. Als ein eindrückliches Beispiel sollten wir die Reflektionen über Israel und den heutigen Antisemitismus Michael Neumanns näher betrachten. Michael Neumann ist Professor für Philosophie an der Trent University in Kanada und Autor von What is Left: Radical Politics and the Radical Psyche. [9] Er wirft Israel »zionistische Gräueltaten« und »einen Rassenkrieg gegen die Palästinenser« vor. In diesem Krieg gehe es um nichts Geringeres als um die »Ausrottung des palästinensischen Volkes«, ein »freundlicherer, sanfterer Genozid, der seine Opfer als Täter darstellt«.
Die Palästinenser »werden erschossen, weil alle Israelis glauben, die Palästinenser sollten verschwinden oder sterben. [...] Dies ist nicht der tödliche Fehler einer blinden Supermacht, sondern der eines aufstrebenden Übels«. Mehr noch: Schuldig sind nicht allein die Israelis, sondern die Juden generell, da »sie in ihrer Mehrheit einen Staat unterstützen, der Kriegsverbrechen verübt«. Diese Unterstützung schließt alle Juden mit ein, unterstellt Neumann – er geht sogar soweit zu behaupten, dass die »jüdische Mittäterschaft viel höher ausfällt als die deutsche Mittäterschaft« an den Verbrechen des Holocausts während des Naziregimes.
Er ist sich bewusst, dass eine Einschätzung, die Juden in solch schwarzen Farben malt, auf Ablehnung stoßen muss, riskiert dies aber in vollem Bewusstsein. »Wenn man sagt, diese Auffassungen seien antisemitisch, so ist es vielleicht sinnvoll, antisemitisch zu sein.« Mehr noch: »Ein bisschen Antisemitismus ist akzeptabel.« Was würde er sagen, fragt man sich, wenn ein »akzeptables« Maß an Antisemitismus zu einem Ausbruch an Gewalt gegen Juden führen würde? Seine Antwort: »Wen interessiert’s? [...] Das Vergießen jüdischen Blutes als welterschütterndes Unheil anzusehen ist Rassismus, nämlich die Höherbewertung des Blutes der einen Rasse gegenüber allen anderen.« [10]
Diese Denkweise ist so atemberaubend schief, dass man kaum weiß, wie man mit ihr umgehen soll. Erstens definieren sich Juden weder als einer bestimmten Rasse zugehörig, noch bewerten sie das Leben anderer entsprechend deren »Blut«. Dies zu behaupten, zeugt entweder von himmelschreiender Ignoranz oder aber von ausgesprochener Boshaftigkeit. Die meisten Juden in Israel – weit davon entfernt, jedem Palästinenser den Tod zu wünschen, wie Neumann behauptet – suchen nach Wegen, friedlich mit den Palästinensern zusammen zu leben oder aber ihnen aus dem Weg zu gehen. Die Behauptung, Israel sei zu einem »Genozid« entschlossen oder führe gar einen »Rassenkrieg«, hält weder einer vernünftigen historisch-vergleichenden Analyse stand noch einer Beurteilung unter rechtlichen Gesichtspunkten. Wenn man nach »Rassismus« in diesem Konflikt suchen will, wird man ihn eher auf Seiten der Palästinenser finden, in ihren Lehren und Predigten über die Juden, denn andersherum. Israels Ziel ist es, sich vom Belagerungszustand zu befreien, in dem es sich seit seiner Gründung befindet, und so etwas wie ein normales Leben zu führen. Zeitgleich tut Israel, was es für nötig hält, um seine Bürger davor zu beschützen, von palästinensischen Selbstmordattentätern, die tatsächlich Teil einer »Ausrottungs«-Kampagne sind, in die Luft gesprengt zu werden, während sie in Cafés oder in Bussen sitzen.
Angesichts ihres Wissens aus erster Hand, welch tödlichen Charakter Antisemitismus annehmen kann, ist nicht anzunehmen, dass es viele Juden in Israel gibt, die Antisemitismus als »akzeptabel« oder gar »vernünftig« ansehen. Professor Neumann glaubt nicht nur, sondern rät sogar, »wir sollten Antisemitismus niemals ernst nehmen, ja vielleicht sollten wir unseren Spaß damit haben«. Wie viele andere Juden, möchte man fragen, werden mit ihm nach einem solchen Spaß streben?
Tatsächlich gibt es eine Menge Gleichgesinnter, wie jeder, der im Internet nach »Juden gegen Israel« sucht, sehen wird. Hunderte von Einträgen erscheinen hier, die sich anhören wie Neumann; viele repräsentieren einen Antisemitismus der aggressivsten Ausformung.
Jüdische Opposition gegen den Zionismus – die historische Perspektive
Opposition gegen den politischen Zionismus ist natürlich keine neue Entwicklung im jüdischen Denken, und sie war besonders in der vorstaatlichen Phase eine ausgeprägte Neigung in bestimmten politischen, religiösen und intellektuellen Kreisen. Jüdische Marxisten werteten regelmäßig den Zionismus als imperialistisch ab, als kolonialistisch, rassistisch und repressiv. Sie interpretierten ihn als einen ideologischen Feind derjenigen, die auf der Seite der Unterdrückten im Klassenkampf standen. Am anderen Ende des Spektrums betrachteten die gesetzestreuen Juden um Neturei Karta und andere orthodoxe Gruppen die Idee eines jüdischen Staates vor der Ankunft des Messias als blasphemisch und argumentierten auf der Basis religiöser Grundsätze leidenschaftlich gegen ihn.
Aus anderen Gründen lehnten Reformjuden in den Vereinigten Staaten die Idee einer territorial gebundenen, unabhängigen jüdischen Nation ab und wiesen jegliche Ansprüche, die vom politischen Zionismus an sie herangetragen wurden, zurück. Einige bekannte liberale jüdische Intellektuelle, die davon überzeugt waren, dass die Gründung eines souveränen jüdischen Staates in Palästina von der arabischen Bevölkerungsmehrheit nicht akzeptiert werden und unabdingbar zu einem endlosen Krieg führen würde, bekämpften die Ambitionen des Zionismus, ein eigenes nation building zu betreiben, und befürworteten stattdessen einen binationalen Staat.
Vor 1948 hatte jede dieser Gruppierungen ihre Anhänger, die teilweise auch noch nach der Staatsgründung in Opposition zum Zionismus standen. Als die politische Souveränität jedoch eine Tatsache war und aus der kleinen, aber bekämpften jüdischen Nation eine Quelle des Stolzes wurde, verringerte sich der Antizionismus unter den Juden, insbesondere nach dem Krieg im Juni 1967, obwohl er nicht gänzlich verschwand. In den letzten Jahren konnte man eine Art antizionistisches Revival beobachten, besonders unter jenen Juden, die sich zur Linken zählen.
Tony Judt: »Israel ist schlecht für die Juden«
Der Historiker Tony Judt beispielsweise veröffentlichte in den letzten drei Jahren eine Reihe von zunehmend verbitterten Artikeln in der Nation, in der New York Review of Books und in der Ha’aretz, in denen er Israel als arrogant, aggressiv, anachronistisch, infantil bis hin zur Dysfunktionalität, als unmoralisch und als eine primäre Quelle des heutigen Antisemitismus bezeichnete. »Israel heute ist schlecht für die Juden«, so Judt, und es würde sowohl ihnen als auch allen anderen Menschen einen Dienst erweisen, wenn es aufhörte zu existieren. »Die Zeit ist gekommen, das Undenkbare zu denken«, und das sei, laut Judt, »den jüdischen Staat durch einen einzigen, integrativen, binationalen Staat der Juden und Araber zu ersetzen«. [11]
Diese Idee ist alles andere als neu, sondern vielmehr ziemlich alt und inzwischen reichlich diskreditiert und ausrangiert. Jeder weiß, dass eine solche Entität, falls sie jemals Wirklichkeit werden sollte, über kurz oder lang ein arabisch dominierter Staat werden würde und die verbleibenden Juden im besten Falle eine tolerierte Minderheit wären. Durch einen solch hinfälligen Vorschlag, der der territorial verankerten jüdischen Existenz ein Ende setzen würde, vereine sich Judt, wenn auch unabsichtlich, mit älteren Formen der christlichen Opposition gegen jüdischen Partikularismus, so Benjamin Balint: »Israel ist lediglich das neue Kampffeld, auf dem der alte Krieg gegen die jüdische Andersartigkeit geführt wird.« [12] Nichtsdestotrotz hat Judt seine Anhänger, und die Rede von der Auflösung des jüdischen Staates und seiner Ersetzung durch einen binationalen Staat ist in gewissen intellektuellen Kreisen wieder en vogue.
Sammlung von Kritiken
Um solche Ressentiments in ihrer ganzen Bandbreite dargestellt zu bekommen, kann man kaum etwas Besseres tun, als zwei neu veröffentlichte Sammelbände zu lesen: Wrestling with Zion: Progressive American Jewish Responses to the Israeli-Palestinian Conflict, herausgegeben von Tony Kushner und Alisa Solomon (New York, 2003), sowie Radicals, Rabbis and Peacemakers: Conversations with Jewish Critics of Israel, herausgegeben von Seth Farber (Monroe ME, 2005).
Im erstgenannten Buch liest man von der israelischen »Apartheid«, dem »Rassismus«, dem »Kolonialismus« und den »ethnischen Säuberungen«. Diese Beschreibungen sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil des Diskurses innerhalb der »fortschrittlichen« amerikanischen Juden geworden, die es für erwiesen halten, dass Israel ein Angriffsstaat ist, an Verbrechen schuldig, die vergleichbar sind mit denen von Hendrik Verwoerds Südafrika und jenen Hitlerdeutschlands. Für den Zionismus sind jene Tage unwiederbringlich vorbei, als er innerhalb der Linken noch als eine jüdische nationale Befreiungsbewegung galt. Joel Kovel, Professor am Bard College, der ein Buch über das postzionistische Israel schrieb, sieht den Zionismus »als eine äquivalente Form des Rassismus« und kann nicht vergessen, dass das »jüdische Heimatland auf dem Rücken eines anderen Volkes durchgesetzt wurde« (S. 357).
Die prominente Dichterin Adrienne Rich behauptet, dass schon allein das Wort »Zionismus wie ein Brandsatz wirkt«; es sei »so durchdrungen von Idealismus, der Herkunft, der Idee von Blut und Boden, in Erinnerung an das eigene Opfersein und im Anspruch auf das Recht, andere zu Opfern zu machen«, dass es »angesichts der Realitäten des 21. Jahrhundert aufgelöst werden muss« (S. 164). Sie sagt nicht genau, was mit diesen »Realitäten« gemeint sein könnte, aber in Anbetracht ihres extraterritorialen Ideals der »Juden ohne Grenzen« (S. 165) ist klar, dass in ihren Augen das Wort »Zionismus«, zusammen mit dem gesamten zionistischen Projekt, seine Schuldigkeit getan hat und beendet werden sollte.
Ein weiterer Beitrag stammt von Sara Roy, die sich selbst als Tochter von Holocaust-Überlebenden bezeichnet. Sie schreibt, dass es »innerhalb der jüdischen Gemeinde immer als eine Form der Häresie betrachtet wurde, wenn man die israelische Politik und das israelische Vorgehen mit den Nazis verglich« (S. 176). Daraufhin fährt sie fort, genau dies zu tun, indem sie Israel vorwirft, die Besatzungspolitik der Nazis zu übernehmen.
In einer etwas verkürzteren Form erklärt Irene Klepfisz, eine Dichterin und Holocaust-Überlebende, dass »man ein Opfer sein kann und gleichzeitig ein Täter«
(S. 367). Eine stark vereinfachende Anschuldigung, die regelmäßig von jenen vorgebracht wird, die Israels Image beschmutzen möchten, indem sie falsche Parallelen zwischen den Juden als Opfern und jenen, die sie zu Opfern machten, ziehen.
Einige unter den Israelkritikern sind noch aus anderen Gründen wütend auf das Land: In ihren Augen ist der Judaismus den Sünden Israels zum Opfer gefallen, und sie schätzen ihre religiösen Prinzipien höher als die Existenz des Staates. »Ich bin nicht gegen Israel«, schreibt Douglas Rushkoff, ein New Yorker Autor, der über Medien und Kultur schreibt. Seine Ablehnung begründet er vielmehr mit seiner Sicht auf Israel als »nationalisiertes Flüchtlingslager«, das einen »Abfall von den jüdischen Idealen darstellt, nicht ihre Verwirklichung. [...] Wir haben zwar ein kleines Stück Land, aber auf dem Weg dahin verlieren wir unsere Religion« (S. 181f.).
Daniel Boyarin, ein Professor für Talmudstudien an der Universität von Kalifornien in Berkeley, stimmt Rushkoff zu und übertrifft ihn in der Kritik. So wie das Christentum vielleicht in Auschwitz, Treblinka und Sobibór gestorben sei, so, »fürchte ich, stirbt mein Judentum in Nablus, Deheishe, Beteen (Beth-El) und al-Khalil (Hebron)«, lamentiert Boyarin. Wie so häufig ist die Parallelisierung mit dem Holocaust ein sicheres Zeichen, dass klares Denken durch blankes Ressentiment ausgetauscht wurde. In diesem Fall, wie in vielen anderen, wird die eigene jüdische Identität gegen den jüdischen Staat in Stellung gebracht.
Neue Rituale des Dissens
Um den von Israel zu verantwortenden angeblichen Schaden vom Judentum abzuwenden, entwickeln einige Juden Neuerungen für die praktische Religionsausübung. Juden, die Mitglieder von JATO (Jews Against the Occupation) sind, bauen beispielsweise eine »Anti-Besatzungs-Sukkah (Sukkothütte) mit Bildern von zerstörten palästinensischen Häusern« an den Wänden. Marc Ellis, ein Professor für Jüdische Studien an der Baylor Universität und Autor mehrerer aus einer befreiungstheologischen Perspektive geschriebener antizionistischer Bücher, schlägt vor, die Torahrollen in der Bundeslade durch Repliken von israelischen Kampfhubschraubern zu ersetzen, da diese die wahren Symbole des heutigen Israels seien, so Ellis (S. 155).
Antizionistische Juden haben zudem andere Rituale eingeführt, wie den Schwur auf die Nichterhebung ihres Rechtsanspruchs auf Rückkehr nach Israel – das Privileg der Einbürgerung also, das derzeit jedem Juden eingeräumt wird (es sei denn, er hat eine kriminelle Vergangenheit und könnte die öffentliche Sicherheit gefährden). »Weit davon entfernt, mich durch Israels Existenz in Sicherheit zu fühlen, fühle ich mich durch Israels Vorgehen beständig der Gefahr ausgesetzt«, schreibt Melanie Kaye/Kantrowitz. »Ich erkläre hiermit eine neue Art und Weise, jüdisch zu sein. [...] Ich verzichte auf mein Recht auf Rückkehr.« (S. 256) Bei der rituellen Beschneidung ihrer Söhne Meg Barnett und Brad Lander wurde eine ähnliche Erklärung abgegeben: »Wir sind glücklich, dich zu einem Juden zu erklären ohne das Recht auf Rückkehr. Dein Name steht für unsere tief empfundene Hoffnung, dass du deine jüdische Identität feiern und erkunden wirst, ohne sie mit Nationalismus zu verwechseln.« (S. 293)
Wie dieser Ausdruck eines jüdischen Dissens zeigt, gibt es eine Tendenz innerhalb der amerikanischen Juden, die sich selbst als »fortschrittlich« bezeichnen, antizionistische und antiisraelische Position zu übernehmen, die in ihrer Verurteilung denen der prononciertesten nichtjüdischen Antizionisten in nichts nachstehen. Man erkennt in ihren Schriften Leidenschaften der Bitterkeit, der Wut, der Entrüstung und der Zurückweisung, die jene der bloßen Kritik bei weitem übersteigen. Israel ist in ihren Augen eines großen Verrats schuldig und sollte daher bestraft werden. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass mehr als eintausend seiner Einwohner in den letzten Jahren ermordet wurden und mehrere Tausend für immer verstümmelt. Ungeachtet auch der Tatsache, dass Israel, mehr als alle anderen Länder auf dieser Erde, ausgesondert sowie mit einseitigen und falschen Anschuldigungen wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen konfrontiert wird und ein regelmäßiges Ziel von Boykottkampagnen und Aufrufen zum Abbruch der Handelsbeziehungen ist. Und ungeachtet der Tatsache, dass Israel das einzige Land dieser Erde ist, dessen pure Existenz bereits als Affront gewertet wird, dessen Existenzrecht bezweifelt und dessen Zukunft öffentlich in Frage gestellt wird.
Keine historischen oder politischen Erklärungen für Israels aktuelles Dilemma werden von den jüdischen Israelkritikern akzeptiert, noch kann der jüdische Staat einfach von seinen vorgeblichen Missetaten freigesprochen werden. »Die Geschichte macht uns total verrückt. [...] Vergesst die Geschichte«, rät Irena Klepfisz (S. 358f.). Sie ist für weniger Erklärungen und für mehr Handeln – und zwar sofort!
Wie bereits andere »repressive« Regime zuvor wird Israel verurteilt, des Allerschlimmsten schuldig zu sein, und muss zur Räson gebracht werden. In ihrem Kommentar zu dem Vorwurf eines studentischen Aktivisten der Rutgers University, dass »Israel ein rassistischer Staat, ein imperialistischer Staat ist – und daher ein Paria-Staat ist und sein sollte«, bemerkt die Journalistin Esther Kaplan, »wenn dies nötig ist, um die Besatzung zu beenden, [...] so sollte Israel unbedingt ein Paria-Staat werden. [...] Die Zeit ist reif, dass Israel durch die Weltmeinung isoliert und gezwungen wird, einfach gezwungen wird aufzugeben« (S. 87).
Obwohl sie noch über relativ wenige Mitglieder verfügen, sind die Aktivisten in Gruppen wie A Jewish Voice for Peace, Jews for Peace in Palestine and Israel, Students for Justice in Palestine, The Labor Committee for Peace and Justice, The International Solidarity Movement und anderen »Gemeinschaften der von Prinzipien Geleiteten und Ungehorsamen« – der Terminus stammt von Susan Sontag (S. 348) – dennoch willens, ihre politischen Ziele durchzusetzen, und dies um jeden Preis. Zusammen mit anderen, die Israel für einen »rassistischen und imperialistischen Staat« halten, würden sie alles in ihrer Macht stehende tun, um aus Israel einen Paria-Staat zu machen. Die vollen Ausmaße ihres Handelns mögen diese Juden vielleicht nicht erahnen, da sie ihre Ambitionen in so wohlklingende Wörter wie »Frieden«, »Gerechtigkeit« und »Wiedergutmachung« kleiden. Sollten sie jemals mit ihren Bemühungen Erfolg haben, Israels ohnehin schon in Frage gestellten Status in den eines Schurkenstaates zu verwandeln, wäre das Ergebnis wohl kaum ein höheres Maß an Frieden und Gerechtigkeit, weder für die Israelis noch für die Palästinenser. Das Gegenteil wäre mit größerer Wahrscheinlichkeit der Fall.
Die Vorwürfe der »Fortschrittlichen«: Radikale, Rabbis und Friedensbewegte
Der wahre Endpunkt dieser Ansichten ist es nicht, die Israelis zu zwingen, sich aus den Gebieten zurückzuziehen, die sie seit 1967 besetzen, sondern das Ende des jüdischen Staates überhaupt zu erzwingen. In den meisten Aufsätzen in Wrestling with Zion wird dieses Ziel eher implizit geäußert, in Seth Farbers Sammlung von Interviews mit antizionistischen Juden jedoch offen ausgesprochen. In diesem Buch schreiben Noam Chomsky, Steve Quester, Joel Kovel, Norton Mezvinsky, Ora Wise, Norman Finkelstein, Phyllis Bennis, Adam Shapiro, Daniel Boyarin, Rabbi David Weiss und Marc Ellis, von denen die meisten als »fortschrittlich« bezeichnet werden.
Welche Aussagekraft der Terminus »fortschrittlich« auch immer gehabt haben mag: In Radicals, Rabbis and Peacemakers erscheint er als kaum mehr denn als selbstreferenzielle Laudatio – das gedachte Äquivalent zu moralischer und politischer Tugendhaftigkeit. Genau wie »Frieden«, »Gerechtigkeit« und vieles mehr im heutigen Wortschatz der linken Phrasendrescherei hat der Terminus »fortschrittlich« seine Bedeutung verloren, und in Farbers überschäumendem Buch erscheint er entweder als ehrfurchtsvolle Geste in Richtung politischer Utopien oder, in Richtung des Zionismus, um auf Ansichten zu verweisen, die man eigentlich nur reaktionär nennen kann. Das Israel, das in Radicals, Rabbis and Peacemakers entworfen wird, ist in seiner Beschreibung »unmoralisch«, »barbarisch«, »brutal«, »zerstörerisch«, »faschistisch«, »unterdrückerisch«, »rassistisch«, »unehrenhaft« und »unzivilisiert« – und nicht von dem Land zu unterscheiden, das radikale Antisemiten regelmäßig als Zerrbild von Israel zeichnen.
Wie von Farber und seinen Kollegen behauptet, ist Israel jeglicher Straftaten schuldig, die ein moderner Nationalstaat nur begehen kann – von »Apartheid« und »Staatsterrorismus« bis hin zu »ethnischen Säuberungen«, »Verbrechen gegen die Menschheit« und »Genozid«. Um diese extremen Anschuldigungen zu beweisen, wird nicht ein einziger überzeugender Beweis gebracht. Im Gegenteil: Wie man anhand der Aufsätze dieses Sammelbandes sehen kann, wird es als eine unhinterfragte Tatsache angesehen, dass Israel ein immanent rassistischer und über die Maßen brutaler Unterdrückungsstaat und ipso facto gemäß der Anklage zu verurteilen ist. Aufgrund seiner angeblichen rassistischen und systematischen Schandtaten wird der jüdische Staat in eine Reihe mit dem Ku Klux Klan und dem Südafrika während der Apartheidgesetzgebung gebracht. Falls diese Analogien zu zahm sein sollten, zitiert Farber vorsichtshalber den Theologen Marc Ellis, der härtere Analogien vorzieht: »Was die Nazis nicht zu Ende gebracht haben, [...] werden wir Juden jetzt vollbringen.« (S. 15)
Andere porträtieren das israelische Vorgehen mit ähnlich übertriebenen und verleumderischen Begriffen. Die palästinensische Terminologie übernehmend, nennt Joel Kovel Israels noch unvollständigen Sicherheitszaun eine »Apartheidmauer« und vergleicht das Leben der Palästinenser auf der anderen Seite mit dem der Juden im »Warschauer Ghetto« (S. 67). Jeder, der auch nur ein bisschen über die Bedingungen im Warschauer Ghetto weiß, wird diesen Vergleich für den gleichen Humbug halten wie den Versuch von Rose, Herzl und Hitler zu verbinden. Doch Kovel ist von der offensichtlichen Fehlerhaftigkeit seiner Analogien nicht abgeschreckt, sondern angetreten, Israel zu beschmutzen, und fährt mit seinen obszönen Ansichten fort.
In demselben Geist fragt sich Steve Quester, ob die Israelis »jetzt anfangen, Gaskammern zu bauen und sie alle zu ermorden« (S. 41), doch nimmt er diese Idee wieder zurück und stellt sich vor, dass es der israelische Plan ist, die Palästinenser einfach zu »terrorisieren« und sie »auszuhungern«. Seth Farber selbst hält an der aggressiveren Ansicht fest, die den »israelischen Rassismus« und den Antisemitismus der Nazis in eins setzt (S. 137). Rabbi David Weiss geht sogar noch weiter, indem er behauptet, die Zionisten seien »noch schlimmer als Hitler« (S. 206).
Kein ernst zu nehmender Historiker würde jemals das israelische Vorgehen mit den systematischen Straftaten der Apartheid in Südafrika oder gar mit der eliminatorischen Barbarei des Nationalsozialismus vergleichen. Der extreme Antizionismus, der sich in den oberen Zitaten Bahn bricht, wird auch nicht im Entferntesten von seriösen historischen Analysen befördert, sondern eher von einer komplexen Verbindung aus politischen und psychologischen Motiven, die den Verstand ausschalten und durch etwas ersetzen, das der Hysterie nahe ist. Wie es ein scharfsinniger Kommentator bemerkte, um das obsessive und selbstverleugnende Denken dieser Juden zu erklären: »Die Psychologen der Zukunft werden nicht unter Arbeitsmangel leiden.« [13] Ohne die Analysen vorweg zu nehmen, sollte man bereits heute auf die verstörendste Konsequenz dieses jüdischen Krieges gegen den jüdischen Staat hinweisen: In der linken Rhetorik, die der »fortschrittlichen« Juden inbegriffen, wurde das Wort »Zionismus« zum Inbegriff des Bösen, mithin einer gefährlichen und schändlichen Ideologie, die einen korrupten und schrecklichen Staat hervorgebracht habe. Das Ziel der Antizionisten ist es, den jüdischen Staat in die Knie zu zwingen, indem sie ihn in eine Reihe mit den verbrecherischsten Staaten des letzten Jahrhunderts stellen.
Um dieses Ziel zu verfolgen, werden in Farbers Radicals, Rabbis und Peacemakers selbst die Lehren des Judaismus herangezogen, wird der Zionismus als »Perversion« des Judaismus bezeichnet und der Staat, den er hervorbrachte, als »schrecklicher Fehler« verurteilt (S. 224). Farber, den religiösen Standpunkt der extrem orthodoxen Rabbis von Neturei Karta übernehmend, hält den jüdischen Staat für Häresie und wirft ihm vor, »einen Dolch in das Herz unserer Identität als Juden gestoßen zu haben« (S. 15). Nicht ein Autor dieses Buches weicht von dieser Linie ab. Im Gegenteil, eine Konstante ihres kollektiven Denkens scheint die Idee zu sein, dass Israel die prophetische Tradition betrügt, »den Kern des Judentums erdrückt« (S. 63) und demzufolge nicht erlöst werden kann.
Es ist hinreichend bekannt, dass die biblischen Propheten auf der Seite des Gesetzes standen und sich auch mit Kritik nie zurückhielten, wenn sich ihre Leute von den Gesetzen entfernten. Die heutigen Juden an diese Maxime zu erinnern, ist eine religiöse Pflicht und sollte nicht in Vergessenheit geraten. Aber die heiligen Bücher gegen den jüdischen Staat in Anschlag zu bringen und gleichzeitig die politischen und historischen Umstände des israelischen Vorgehens außer Acht zu lassen, ist nur eine hohle Geste in Richtung des religiösen jüdischen Denkens. Farbers Buch ist reich an solch oberflächlichen Gesten, da das Judentum immer wieder für politische Zwecke herhalten muss. Es wird leider auch nicht besser, wenn die Autoren vom Judentum absehen und die »Entzionisierung« Israel anderweitig zu begründen versuchen. Noam Chomsky, der Pate der »fortschrittlichen« Attitüde gegenüber dem Zionismus und Israel, verwirft das zionistische Projekt, spricht sich aber aus pragmatischen Gründen für die Zweistaatenlösung aus. Er sieht eine solche Lösung nur als einen »Zwischenschritt« an, »optimal wäre gar kein Staat« (S. 28).
Adam Shapiro, ein Aktivist des International Solidarity Movement und ehemaliger Mitstreiter von Yassir Arafat im belagerten Ramallah, sieht Chomskys Position als veraltet an und ist sich sicher, dass »die Zweistaatenlösung schon lange keine Option mehr darstellt« (S. 174). Ora Wise, ein anderer jüdischer Aktivist, der überzeugt ist, dass die Palästinenser von den Israelis systematisch »massakriert« werden, stimmt ihm zu: »Eine Zweistaatenlösung wird niemals zu echter Gerechtigkeit und Gleichheit führen.« (S. 106) Phyllis Bennis ist ebenfalls sicher, dass eine solche Lösung mit den Forderungen nach »Frieden und Gerechtigkeit« nicht in Einklang zu bringen ist (S. 148). Jovel Kovel, der die Israelis samt und sonders als Schlächter beschimpft, glaubt, dass die Juden einen großen Fehler machen, wenn sie denken, dass »es an Israel irgendetwas zu retten gäbe« (S. 72). Für ihn und seine »fortschrittlichen« Kollegen gibt es dies auf keinen Fall.
Was also bleibt diesen »Juden mit Gewissen«, wie Farber sie selbstgefällig nennt, zu tun? In seiner Selbstvergewisserung, dass »alles, was Menschen geschaffen haben, sie auch wieder zerstören können« (S. 68), schlägt Kovel für die vom Zionismus geschaffenen Probleme eine noch radikalere Lösung vor als Chomsky, der, im Kontext dieses Buches, mit seiner Zweistaatenlösung schon fast als konservativer Denker erscheint. Nach Kovels Ansicht leiden die Juden an, wie die Marxisten es gerne nennen, »falschem Bewusstsein«, und müssen ihren Geist von solch benebelnden Ansichten befreien, wie dem jüdischen Partikularismus, dem Außergewöhnlichen, der Ethnizität und dem Auserwähltsein – ja, sie müssen ihre Verbindungen zum alttestamentarischen Bund kappen. Da diese »zerstörerischen« Ideen in einen jüdischen Staat eingebunden worden seien, sei es wichtig, dass sich die Juden von einer solchen Mentalität befreiten und die »rauen und schmutzigen Praktiken des Zionismus« (S. 77) sowie den »illegitimen« Staat, den er hervorbrachte, durchschauten. Die jüdische Berufung ist es demzufolge, sich eines offenen und friedvollen Lebens in der Diaspora zu erfreuen, anstelle der Enge und Bedrohung innerhalb der Grenzen eines Nationalstaates. »Um echter Jude zu werden«, müssten die Juden laut Kovel »ihren Partikularismus ablegen«, »den Zionismus zerstören oder überwinden« und »den jüdischen Staat zerschlagen« (S. 63).
Wie Farbers »Dolch« im Herzen der jüdischen Identität, ist Kovels bildhafte Sprache voll der gewalttätigen Rhetorik, eine merkwürdige Haltung für einen eingeschworenen Friedensbewegten. Doch eine solch extreme Rhetorik ist heutzutage typisch für den »fortschrittlichen« Diskurs um Israel und den Zionismus, der seine ihm innewohnenden mörderischen Fantasien nicht länger zu maskieren sucht. Welch bizarre Blüten diese Fantasien treiben, mag Steve Questers Antwort auf die palästinensischen Selbstmordattentate innerhalb Israels beschreiben: »Als die Selbstmordattentäter einer nach dem anderen zündeten, dachte ich mir: ›Okay, jetzt wird jeder verstehen, wie schlimm das Verhalten der Israelis ist‹ [...] Also ging ich auf die Straße, kaufte mir einen kleinen Anstecker mit der palästinensischen Fahne und trug sie stolz den ganzen Tag.« (S. 34) Wie so vieles in Farbers Buch negiert diese theatralische Geste der Solidarität mit den »Unterdrückten« »fortschrittliches« politisches Denken bis zur Perversion und setzt es in Verbindung mit jenem Denken, das den Neuen Antisemitismus antreibt. Zu einer Zeit, da die Delegitimierung und schließlich die Zerstörung Israels von den Feinden des jüdischen Staates mit Inbrunst betrieben wird, ist es mehr als verstörend, dass Juden Teil dieser Verunglimpfung sind. Dass manche ihre Anklage im Namen des Judentums erheben, macht die Angelegenheit nur noch grotesker.
Merkwürdige Bettgesellen – und hochgradig falsche
Die Figuren, die im vorigen Kapitel zitiert wurden, bilden eine divergente Gruppe. Einige stehen außerhalb des zeitgenössischen jüdischen, intellektuellen Diskurses, andere bestimmen den Diskurs wesentlich. Dozenten, Lehrer, Autoren, Polit-Aktivisten, Dichter, religiöse Autoritäten und andere repräsentieren die eine Seite – sie nennen sich selbst stolz die »fortschrittliche« Seite des Diskurses. »Die Zeit ist gekommen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite man steht«, fordert Jacqueline Rose. [14] In diesem Punkt hat sie Recht. Trotzdem irrt die politische Richtung, für die sie steht – sie stellt nämlich die Idee einer jüdischen Nation in Abrede, fordert weiterhin, in ihren Worten, sowohl »ökonomische und militärische Sanktionen gegen Israel, als auch einen akademischen Boykott«, und geht in ihrem ganzen Ansatz fehl. [15] Diese Denkweise ist in ihren Auswirkungen höchst gefährlich, da die Infragestellung des Existenzrechts des israelischen Staates und seiner moralischen Verfasstheit eben jenen Aufwind gibt, die Israel zerstören wollen, da sie deren eliminatorischen Zielen als jüdische Kronzeugen zur Seite stehen.
Heute gibt es viele wie Jacqueline Rose. Einige sind vielleicht nur ideologische Trittbrettfahrer, Juden, die die negativen Klischees über den Zionismus und Israel nachplappern, quasi als linkes Glaubensbekenntnis. Diese ideologisch gefärbte Politik verbindet heute Antizionismus mit Antikapitalismus, Antiimperialismus, Antiglobalisierung, Antirassismus etc. Daher wird von vornherein erwartet, dass man gegen den Zionismus ist und damit gegen den auf ihn gegründeten Staat, der angeblich »rassistisch«, »kolonialistisch« und »repressiv« ist. Wie der Politikwissenschaftler Andrei Markovits es ausdrückt: »Wenn man nicht wenigstens ernsthafte Zweifel an der Legitimität des Staates Israel (ganz zu schweigen von der Politik seiner Regierung) äußert, [...] läuft man Gefahr, von ›der Linken‹ ausgeschlossen zu werden«. [16] Allein die Tatsache, dass der Antizionismus – verstanden als die Negierung des etablierten Rechts der Juden auf ein sicheres Heimatland in Israel – Merkmale des antijüdischen Ressentiments der Vergangenheit in sich aufnimmt, scheint die jüdischen Anhänger dieser Politik entweder nicht zu stören, oder sie bemerken es nicht. Das ist nicht nur traurig, das ist Verrat. Über Jahrzehnte waren Individuen und Gruppierungen innerhalb der Linken erbitterte Gegner des Antisemitismus und bekämpften ihn. Heute mit anzusehen, wie die Nachfolger einen neuen, wieder erwachten Antizionismus unterstützen, der in vielem dem älteren Antisemitismus gleicht, ist bestürzend und entmutigend.
Genauso verstörend wie die kulturelle Kodierung selbst sind die jüdischen Intellektuellen, die mithelfen, jene zerstörerischen rhetorischen Tropen zu entwickeln und zu etablieren. Zur Bestürzung vieler hat Israel selbst eine alarmierend hohe Anzahl an Autoren, Dozenten und Journalisten hervorgebracht, die in diesen feindlichen Chor einstimmen. Einer von ihnen ist der Philosoph Yeshayahu Leibowitz, der weder ein Problem damit hat, von der »Nazifizierung« der israelischen Gesellschaft zu sprechen, noch damit, die israelische Armee als »Judeo-Nazis« zu beschimpfen. Und Leibowitz ist nicht der einzige, der eine solch abwertende Sprache benutzt.
Es ist eine traurige, aber bekannte Tatsache, dass einige der härtesten und leidenschaftlichsten Verleumder Israels, die den Staat des »Rassismus«, des »Faschismus«, der »Apartheid«, der »ethnischen Säuberung« und des »Genozids« für schuldig erachten, innerhalb der Staatsgrenzen wohnen. Ihre Verleumdungen stammen aus dem extremen Wortschatz des antizionistischen Spotts und der vernichtenden Kritik, aus denen auch die schärfsten Feinde des jüdischen Staates schöpfen. [17]
»Stolz sich zu schämen, ein Jude zu sein«
Innerhalb der englischsprachigen Welt sind die meisten Vordenker der rhetorischen Radikalisierung des »fortschrittlichen« Antizionismus in den Büchern Wrestling with Zion und Radicals, Rabbis und Peacemakers versammelt. Ihre Kollegen unter den britischen Juden sind jene, die der britische Anwalt Anthony Julius als Leute bezeichnet, die stolz darauf sind, sich zu schämen, Juden zu sein, unter anderem Jacqueline Rose, Hilary and Steven Rose (sie leiteten die Kampagne für den akademischen Boykott gegen Israel in Großbritannien), John Rose, Autor des polemischen Buchs The Myths of Zionism, und andere. Einige der härtesten antiisraelischen Ausfälle in der heutigen politischen Auseinandersetzung stammen von ihnen, wie die jetzt häufig zu hörende Aussage, dass »der Zionismus der wahre Feind der Juden sei«, das Gegenteil des Judentums, eine primäre Quelle des heutigen Antisemitismus. Demzufolge wäre die Auflösung Israels – beschrieben als moralisch verkommen, als ein Verbrecherstaat – nicht nur gut für die Juden, sondern für den Frieden auf Erden. Der kumulative Effekt dieser feindlichen Ideen, die sich von den Rändern zum Mainstream der »fortschrittlichen« öffentlichen Meinung ausbreiteten, war jener, dass das aggressive Potenzial, das man für eingeschlafen, wenn nicht gar für tot hielt, wieder erweckt wurde.
Wie andere Verkündungen über das Ende übler Ideologien war auch diese nicht nur verfrüht, sondern zudem grundsätzlich falsch. Weit davon entfernt auszusterben, wurde der alte Judenhass wiedererweckt und fand schnell seine Stimme, die heute zunehmend mit jüdischem Akzent spricht. Man hörte es beispielsweise in einem kürzlich erschienenen Kommentar von Richard Cohen, einem Journalisten der Washington Post, der mitten im Zweiten Libanonkrieg die Gründung Israels für einen »Fehler« hielt, der »ein Jahrhundert der Kriege und des Terrorismus hervorbrachte«. Cohen hat natürlich Recht mit der nicht enden wollenden Gewalt, aber irrt in der Bestimmung der Ursache. Statt die Verantwortung für den Terrorismus bei den Terroristen zu suchen, verdreht er einfach die Tatsachen und sagt: »Es gibt keinen Grund, der Hizbollah die Schuld zu geben.« Stattdessen beschuldigt er die Agenten einer abstrakten und fehlerhaften »Geschichte«, Israel überhaupt erst gegründet zu haben. Seine Zusammenfassung: »Den größten Fehler, den Israel jetzt machen könnte, ist zu vergessen, dass Israel selbst der Fehler ist.« [18]
Für andere ist Israel weniger ein Fehler als ein Verbrechen. Jene, die Israel mit genau solchen Bezeichnungen anklagen, sind heutzutage nicht nur reaktionäre Antisemiten oder revolutionäre Djihadisten, sondern auch Menschen mit so verdächtig jüdischen Namen wie Cohen.
»Zionismus [...] ist auf einer Unmöglichkeit gegründet, ein Leben damit oder darin wird zwangsläufig auch zur Lüge. [...] Zionismus kann nur seine Verbrechen wiederholen und weiter degenerieren. Nur ein Volk, das sich so hoch (über die anderen) stellt, kann so tief fallen.« [19]
»Der Zionismus und seine Träger sind die größte Bedrohung des Judentums. [...] Der zionistische Staat, Israel genannt, ist ein Regime ohne Existenzberechtigung.« [20]
Diese Zitate stammen aus einem neuen Buch, das nicht etwa in einem Propagandaverlag in Kairo, Teheran oder Damaskus erschien, sondern in einem Verlag in den Vereinigten Staaten. Als Unterrichtmaterial für die Schule, herausgegeben, um die Diskussion über Israel zu stimulieren, beginnt das Buch gleich im ersten Kapitel mit der unfassbaren Frage: »Sollte Israel existieren?« Kann man sich vorstellen, dass in einem amerikanischen Schulbuch eine solche Frage über ein beliebiges anderes Land gestellt werden würde? »Sollten Schweden, Ägypten oder Argentinien existieren?«, »Sollten Kanada oder Japan existieren?« Die Frage ist so absurd, dass sie niemals gestellt werden würde. Wenn es aber um Israel geht, wird die vorher undenkbare Frage pädagogisch wertvoll und werden Israels Existenz und Zukunft zum Planspiel im Klassenraum.
Die erschreckendsten und zugleich zerstörendsten Antworten auf solche Fragen kommen nicht – wie man denken sollte – von Mahmud Ahmadinedjad oder einem Hamas-Führer, sondern von Ahron Cohen und Joel Kovel. Der erste wird als Rabbi vorgestellt (assoziiert mit Neturei Karta), der zweite als Professor des Bard College, der die Juden schon mal aufruft, den »jüdischen Staat zu zerstören«. Beide schreiben in diesem Schulbuch unter aussagekräftigen Titeln; Cohens Artikel heißt: »Israel hat keine Existenzberechtigung«, und Kovels firmiert unter: »Israel sollte kein jüdischer Staat bleiben«. Wie die jungen Leser schnell lernen, kommen die Argumente für die Zerschlagung des jüdischen Staates von den Juden selbst – der Traum jedes Antisemiten wird wahr. Bedenkt man die Entwicklung des »fortschrittlichen« jüdischen Denkens, so sollte einen dies alles – so pervers es auch ist – nicht mehr verwundern.
[1] Oberrabbiner Dr. Jonathan Sacks: Thoughts for the day, 16. Dezember 2005, BBC
[2] In den öffentlichen Reden wiederholte Mahmud Ahmadinedjad seitdem regelmäßig seine aufwieglerischen Aussagen über Israel und seine abfälligen Bemerkungen über den Holocaust. In diesem Sinne fügt sich seine Rhetorik in die anderer iranischer Führer der letzten Jahre. Siehe auch Rubin, Michael: The Radioactive Republic of Iran, Wall Street Journal, 16. Januar 2006
[3] Der kürzlich von Edward Alexander und Paul Bogdanor veröffentlichte Sammelband The Jewish Divide over Israel: Accusers and Defenders (Piscataway, NJ, 2006) widmet sich sehr ausführlich dieser Thematik. Für eine kürzere, aber sehr prägnante Studie über den Antizionismus unter europäischen, jüdischen Intellektuellen siehe: Ottolenghi, Emmanuele: Europe’s Good Jews, Commentary Dezember 2005, S. 42-46.
[4] Pryce-Jones, David: Their Kampf, http://www.nationalreview.com, 29.06.2002
[5] Siehe Arsu, Sebnem: Istanbul Journal, If you want to make a film to fly, Make Americans the Heavies, New York Times, 14. Februar 2006.
[6] Syrian Government Daily suggests Israel Created, Spread Avian Flu, MEMRI Special Dispatch No. 1994, 16. Februar 2006.
[7] Siehe: Ahmadinejad Blames Israel for Cartoons, Associated Press, 11. Februar 2006
[8] Für eine detaillierte Übersicht über die voreingenommene Medienberichterstattung über die Kämpfe nahe Jenin siehe auch Gutmann, Stephanie: The Other War, Israelis, Palestinians, and the Struggle for Media Supremacy, San Francisco, 2005
[9] Neumann, Michael: What’s Left. Radical Politics and Radical Psyche, Peterborough ON, 1992.
[10] Neumann, Michael: What is Anti-Semitism? in Cockburn, Alexander / St. Clair, Jeffrey (Hg. ): The Politics of Anti-Semitism, Oakland CA, 2003, S. 3-6; 10.
[11] Judt, Tony: Israel: The Alternative, in: New York Review of Books, 23. Oktober 2003.
[12] Balint, Benjamin: Future Imperfect: Tony Judt Blushes for the Jewish State, in: The Jewish Divide over Israel, S. 65-75
[13] Ottolenghi: Europe’s Good Jews, S. 45
[14] Bechler, Rosemary: Nation as trauma, Zionism as question: Jacqueline Rose interviewed, vom 18. August 2005, unter: http://www.opendemocracy.net/debates/article.jsp?id=2&debateId=97&articleId=2766, S. 7.
[15] Ebenda.
[16] Markovits, Andrei: The European and American Left since 1945, in: Dissent, Winter 2005.
[17] Für weitere Beispiele siehe: Alexander, Edward: Israelis against Themselves, sowie Bogdanor, Paul: Chomsky’s Ayatollahs, in: Alexander/Bogdanor (Hg.): The Jewish Divide over Israel, S. 33-45, 115-134.
[18] Cohen, Richard: Hunker down with History, in: Washington Post vom 18. Juni 2006.
[19] Kovel, Joel: Israel Should not Remain a Jewish State, in: Woodward, John (Hg.): Israel: Opposing Viewpoints, Detroit, 2005, S. 40f.
[20] Cohen, Ahron: Israel Has No Right to Exist, in: ebenda, S. 29.
Nicht zuletzt in Deutschland, so darf ergänzt werden, etabliert sich ein »koscherer« Antisemitismus unter Berufung auf jüdische Kronzeugen; so verweisen radikale Antizionisten und andere Antisemiten nur zu gern auf Uri Avnery, Norman Finkelstein oder Alfred Grosser, um ihr antiisraelisches und antijüdisches Ressentiment zu rechtfertigen.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors hat Sue Bürger den Text ins Deutsche übertragen, der Ende März mit einem Vorwort von Leon de Winter in der Edition Pacific Palisades im Ölbaum-Verlag erscheint. Wir dokumentieren vorab den Text von Alvin H. Rosenfeld, der zudem auch als PDF-Dokument verfügbar ist.
»Fortschrittliches« jüdisches Denken und der Neue Antisemitismus
»Der deutsche Faschismus kam und ging. Der Sowjet-Kommunismus kam und ging. Der Antisemitismus kam und blieb.« [1] Mit diesen scharfsinnigen Worten reagierte Rabbi Jonathan Sacks, der Oberrabbiner von Großbritannien, auf die Rede von Mahmud Ahmadinedjad, in der der Präsident des Iran Israel als einen »Schandfleck« bezeichnete, der »von der Weltkarte getilgt« werden solle. Einige Tage nach seiner Brandrede legte der iranische Führer noch einmal nach und bezeichnete den Holocaust als einen »Mythos«, ein »Ammenmärchen«. [2] Schockiert von einem solch unverfrorenen Ausbruch antisemitischer Gehässigkeiten, gestand Rabbi Sacks, dass die Wiederkehr des Antisemitismus »eines der erschreckendsten Erlebnisse meines Lebens ist, da dies nach sechzig Jahren Holocaust Education, antirassistischer Gesetzgebung und interreligiösen Dialogs geschah«.
Angesichts eines so verstörenden Trends wird sich dieser Essay mit zwei Fragen beschäftigen. Erstens: Was, wenn überhaupt, ist eigentlich neu am »Neuen« Antisemitismus? Zweitens: In welcher Art und Weise tragen Juden selbst, insbesondere so genannte »fortschrittliche« Juden, zu dem intellektuellen und politischen Klima bei, das eine solche Feindseligkeit unterstützt, besonders in ihrer antizionistischen Ausformung? [3] Vor der eingehenden Untersuchung dieser Fragestellungen sollten wir jedoch einen Blick auf jene Entwicklungen werfen, die diese Fragen überhaupt erst aufgeworfen haben.
Antisemitische Erscheinungsformen in der muslimischen Welt
Innerhalb der letzten Jahre hat sich eine türkische Neuübersetzung von Adolf Hitlers Mein Kampf in Istanbul und anderen türkischen Städten verkauft wie warme Semmeln. Die Popularität von Hitlers Hetzreden gegen die Juden ist so groß, dass elf Verleger sie derzeit im Programm haben. Mehr noch: Die Buchläden können bezeichnenderweise nicht mit der Nachfrage mithalten. Neuauflagen von Mein Kampf erschienen auch im Libanon und in Saudi Arabien, ja, das Buch ist als arabische Übersetzung sogar in Londoner Buchläden erhältlich. [4] Die augenscheinliche Anziehungskraft dieser widerwärtigen Schrift ist nur eines unter vielen erschreckenden Anzeichen dafür, dass die Geister von gestern wieder auferstehen.
Zur gleichen Zeit verkauft sich auch ein weiterer Klassiker der antisemitischen Literatur bestens, die Protokolle der Weisen von Zion, und dies ebenso in der Türkei wie in arabischer Übersetzung von Nordafrika bis in den Nahen Osten. Obwohl schon vor langer Zeit als Fälschung enttarnt, erfreut sich dieses Lügenmärchen über die jüdische Weltverschwörung heute in der arabischsprachigen Welt einer weiten Verbreitung.
Vor zwei Jahren konnte man die Protokolle auf einer viel besprochenen Ausstellung über religiöse Schriften in der Alexandria-Bibliothek in Ägypten sehen. Als eine der »heiligen Schriften« des Judaismus wurden die Protokolle an prominenter Stelle neben einer Torah-Rolle ausgestellt. Zu den Bestsellern im Iran zählend, konnte man sie 2005 am iranischen Stand der Internationalen Buchmesse in Frankfurt/Main auch in englischer Übersetzung finden (außerdem fanden sich dort thematisch ähnlich gelagerte Titel: Die Rolle der Juden bei der Zerstörung des World Trade Centers am 11. September, Die jüdische Weltverschwörung, Dreitausend Jahre jüdischer Frevel, Das Ende Israels etc.).
Die Vorstellung einer perfekt geplanten jüdischen Verschwörung zur Weltbeherrschung wird auch in der Charta der Hamas wiederholt. In dieser finden sich zudem die Protokolle als authentische Quelle, unter anderem um zu beweisen, dass »noch nie irgendwo auf der Welt ein Krieg ausgebrochen ist, ohne dass die Juden ihre Finger im Spiel gehabt hätten«. Darüber hinaus waren die Protokolle die Vorlage für mehrere Fernsehserien, die kürzlich in Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten gesendet wurden. Die Nachfrage nach solchen Märchen in breiten Schichten der muslimischen Welt scheint unersättlich zu sein und wird zudem noch regelmäßig von den Massenmedien angeheizt.
Auch die alte Blutlegende kommt wieder in Mode, mit geringfügigen Anpassungen hier und dort. In dieser wurde den Juden stets nachgesagt, Christenkinder zu entführen, um mit ihrem Blut Matze zu backen. In den neuen Verleumdungen werden die christlichen lediglich durch muslimische Kinder ausgetauscht. Im Iran beispielsweise wurde eine grausige Fernsehreihe ausgestrahlt, in der gezeigt wurde, wie jüdische Chirurgen palästinensischen Kindern die Augäpfel herausoperieren, um sehbehinderte Israelis zu heilen. Etwas abgewandelt findet man diesen Topos im kürzlich erschienenen türkischen Film Tal der Wölfe – Irak, der von einer signifikanten Anzahl Migranten in Deutschland und andernorts gesehen wurde. In diesem Film sieht man einen jüdisch-amerikanischen Chirurgen, der Gefängnisinsassen Organe entnimmt, die für Transplantationen in New York, London und Israel vorgesehen sind. [5]
Den weit verbreiteten Glauben, clevere israelische Wissenschaftler hätten Yassir Arafat tödliche Gifte injiziert, die seinen Tod verursachten, kann man ebenfalls als modernisierte Form dieser alten Legende ansehen. Israelische Doktoren werden zudem beschuldigt, heimlich und absichtlich den AIDS-Virus in der muslimischen Welt zu verbreiten. Als weiterer Beweis ihrer Boshaftigkeit wird angeführt, sie hätten die Vogelgrippe erzeugt und verbreitet, um »Gene, die nur Araber tragen« [6], zu schädigen. Darüber hinaus gibt es die Vorstellung, dass die Israelis junge Ägypter sterilisieren, indem sie Kaugummis heimlich Gift beimischen, und dass sie palästinensische Wasserquellen mit ähnlichen Mitteln vergiften. Das uralte antisemitische Stereotyp des Juden als Brunnenvergifter wird so, um einige moderne Nuancen ergänzt, in das Technologiezeitalter transformiert.
Als ob diese imaginierten Verbrechen nicht schon schlimm genug wären, werden die Terroranschläge vom Elften September gemeinhin dem Mossad zugeschrieben, ja, sogar das Erdbeben und der folgende Tsunami, der Teile Asiens zerstörte, seien angeblich Teile einer üblen Verschwörung seitens der Juden gewesen. Laut eines iranischen Fernsehprogramms aus dem Juni 2004 haben die Juden nicht nur Richard Nixon in die Falle von Watergate tappen lassen, sondern waren auch schon vorher in die Ermordung von Präsident John F. Kennedy verwickelt. Erst kürzlich beschuldigte der Dekan der Juristischen Fakultät einer jordanischen Universität den israelischen Geheimdienst der Ermordung des libanesischen Führers Rafik Hariri und des prominenten libanesischen Journalisten Jebran Tueni. Und obwohl die Israelis rein gar nichts mit den dänischen Karikaturen zu tun hatten, die im Februar 2006 einen Aufstand in der arabischen und muslimischen Welt auslösten, wurden diese einer »zionistischen Verschwörung« zugeschrieben. [7] Zahllose andere Beispiele könnten dieser Aufzählung angeblicher jüdischer Missetaten hinzugefügt werden. Es genügt anzunehmen, dass die Liste so lang würde, wie die Behauptungen fantastisch und erlogen sind. Ungeachtet unserer Bestürzung, dass rational denkende Menschen solchen Lügen Glauben schenken, müssen wir uns doch vor Augen halten, dass es zahllose Menschen in der muslimischen Welt gibt, die genau dies tun. Sie nehmen das Geflecht von erfundenen Anschuldigungen gegen die Juden für bare Münze. Mehr noch: Sie halten es für eine gesicherte, überprüfbare Wahrheit, dass die Juden von heute das sind, was sie angeblich schon seit Menschengedenken waren: betrügerische, hinterhältige, nicht vertrauenswürdige, böse, allmächtige und unerbittlich feindlich gesinnte Menschen, ewige Gegenspieler nicht nur der Menschheit, sondern auch Gottes.
Damit nicht der Eindruck entsteht, dass es Antisemitismus in dieser extremen Ausprägung nur in der muslimischen Welt gibt, ist es wichtig zu erkennen, was in den letzten fünf oder sechs Jahren in der westlichen Welt geschehen ist. Mein Kampf gehört zwar nicht zu den Bestsellern in den europäischen Buchläden, dennoch erschienen neue Übersetzungen auf Polnisch, Tschechisch und in anderen Sprachen. Und damit nicht genug: Adolf Hitler ist weiterhin eine Quelle der Inspiration für Gruppierungen der europäischen Rechten, von denen sich einige von den verrufenen Rändern der Politik in die respektable Mitte bewegen, so in Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien und in einigen ehemaligen Staaten der Sowjetunion. Zeitgleich fing die intellektuelle Elite der europäischen Linken an, ihre Antipathie gegenüber Juden und dem jüdischen Staat lautstark zu artikulieren, in einer Art und Weise, die in Europa lange Zeit nicht zu hören war. Und schließlich gibt es bekanntlich innerhalb der großen muslimischen Bevölkerung jene, die von den Ideen der Djihadisten radikalisiert wurden und deren antagonistischen Energien sich aggressiv gegen Juden richten.
Interessengeflechte: Erscheinungsformen des Antisemitismus in Europa
Eine Manifestation des neuen Antisemitismus ist genau hier zu finden – in einer Verschmelzung der Interessen des rechten Randes, einiger Teile der intellektuellen Linken und des radikalen Islams. Zwar gibt es noch keine formalen Allianzen zwischen diesen sonst so verschiedenen Gruppierungen, aber sie teilen ein Gemeinsames: die Abneigung gegenüber Juden und insbesondere eine ausgeprägte Antipathie gegen den jüdischen Staat. Aus dieser Abneigung hat sich eine von Ressentiments und Feindseligkeiten geprägte, aggressive Stimmung entwickelt, die im Laufe der letzten Jahre zu einer Häufung hinreichend dokumentierter Straftaten führte: Juden wurden auf offener Straße verprügelt, Synagogen, jüdische Schulen und andere jüdische Einrichtungen in Brand gesteckt oder anderweitig attackiert, jüdische Friedhöfe und Holocaust-Mahnmale wiederholt geschändet, ja, die jüdischen Einwohner von Paris, London, Brüssel, Amsterdam und anderen Städten leben in Bezug auf ihr Wohlergehen heute in einer größeren Unsicherheit, als sie dies in den vergangenen Jahrzehnten taten.
Im Jahr 2004 wurden allein in Großbritannien 532 antisemitische Vorfälle gezählt, wovon 83 körperliche Angriffe gegen Einzelpersonen zur Anzeige gebracht wurden – ein Anstieg von 42% im Vergleich zum Vorjahr. 2005 sank zwar die Gesamtzahl der antisemitischen Vorkommnisse geringfügig; dennoch blieb die Zahl der körperlichen Angriffe mit 82 auf einem stabilen Hoch. Angesichts dieser Feindseligkeiten hat Rabbi Sacks auf immer offensichtlicher werdende antisemitische Untertöne in seinem Land hingewiesen und mit einem gewissen diplomatischen Understatement hinzugefügt: »Wir leben in einer Zeit – die erste, seit ich mich erinnern kann –, in der es nicht einfach ist, ein Jude in Großbritannien zu sein.«
In Frankreich sank in den letzten Monaten die Anzahl der Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen. Dies ist auf den zwar verspäteten, aber durchaus effektiven Ansatz der französischen Behörden zurückzuführen, derartige Feindseligkeiten auch wirklich ernst zu nehmen. Doch trotz dieser Bemühungen bleibt das Klima in den gemischten jüdisch-muslimischen Vierteln rund um Paris weiterhin sehr angespannt. Insbesondere nach der durch die Medien bekannt gewordenen Entführung, Misshandlung und Ermordung von Ilan Halimi im Februar 2006 liegen die Nerven der französischen Juden blank. Der Fall Halimi ist besonders erschreckend, doch eben leider kein Einzelfall. Fakt ist, dass seit 2001 in Frankreich mehr Angriffe auf Juden und jüdischen Besitz verzeichnet worden sind als in allen anderen europäischen Staaten. Die Situation eskalierte sogar so weit, dass der französische Oberrabbiner Juden öffentlich davor warnte, die Kippa oder andere religiöse Symbole, die sie als Juden identifizierbar machen könnten, auf der Straße zu tragen. Er tat dies aus gutem Grund: In Brüssel wurde der belgische Oberrabbiner auf offener Straße zusammengeschlagen, und in Frankreich wurden religiöse Juden fast täglich beleidigt und bedroht. Nur wenige Tage nach dem Tod von Halimi wurden drei Juden, darunter der Sohn eines Rabbis, auf den Straßen von Sarcelles von einer Gruppe muslimischer Jugendlicher brutal angegriffen. Ähnliche Attacken wurden seitdem aus dem ganzen Land gemeldet.
Parallel dazu veröffentlichen die Massenmedien ständig gegen den jüdischen Staat und seine Unterstützer gerichtete Verunglimpfungen, Verhöhnungen und Zurechtweisungen; zwangsläufig begleiten negative gesellschaftliche und politische Konsequenzen diese andauernde verbale Aggression. Der Bürgermeister von London, Ken Livingston, bezichtigte letztes Jahr in einem bedeutenden Artikel des Guardian Israel ohne Umschweife der »ethnischen Säuberungen« und bezeichnete Israels Premierminister Ariel Sharon als »Terroristen« und »Kriegsverbrecher«, der hinter Gitter, nicht aber in ein politisches Amt gehöre.
Im selben Geiste verkündete 2005 die britische Association of University Teachers mit ihren 40.000 Mitgliedern einen Boykott gegenüber israelischen Dozenten und israelischen akademischen Institutionen. Dieser wurde zwar zurückgenommen, aber nur, um im Mai 2006 von der 67.000 Mitglieder starken National Association of Teachers in Further and Higher Education durch einen noch umfassenderen Boykott ersetzt zu werden. Dieser Boykott wandte sich gegen »Israels Apartheidpolitik« und forderte britische Akademiker auf, ihre Zusammenarbeit mit ihren israelischen Kollegen zu beenden. Im Februar 2006 rief eine Gruppe britischer Architekten zu einem strengen Boykott gegen israelische Architekten auf, und zur gleichen Zeit veröffentlichte die »Kirche von England« eine Erklärung, die empfahl, sich von Firmen abzuwenden, die Geschäftsbeziehungen zu Israel unterhalten. Ähnliche Maßnahmen gegen israelische Waren wurden auch in skandinavischen Ländern gefordert und teilweise durchgesetzt.
Zu ihrer Ehrenrettung muss man den deutschen Behörden attestieren, dass sie versuchten, die Feindseligkeiten gegenüber den Juden zu deckeln. Dennoch ergaben aktuelle Umfragen in Deutschland, dass die Zahl der Personen mit antisemitischen Ansichten kontinuierlich anwächst. Das Gleiche kann auch über Ressentiments gegenüber Juden in Spanien, Griechenland und Russland gesagt werden. In Russland forderten über 5.000 Aktivisten, Parlamentarier, Künstler und religiöse Würdenträger öffentlich ein Verbot sämtlicher jüdischer Organisationen und Gruppen; sie warfen ihnen Verschwörung und Vaterlandsverrat vor. Ein ähnlicher Aufruf wurde in der Ukraine von über 100 Personen des öffentlichen Lebens unterschrieben. Daher kann es nicht verwundern, dass die tätlichen Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen in diesen Ländern weiterhin zunehmen. Im Februar 2006 wurden in Taschkent ein Rabbi ermordet und auf der Krim eine Synagoge in Brand gesteckt; in anderen ehemaligen Sowjetstaaten wurden Synagogen mit Steinen beworfen oder niedergebrannt. Aus Argentinien, Brasilien und anderen südamerikanischen Ländern hört man ähnliche Berichte über antisemitische Ausfälle bis hin zu tätlichen Übergriffen. Wie wir wissen, sind selbst die Vereinigten Staaten oder Kanada nicht vollständig immun gegen eine solche Bedrohungen und gelegentliche Vorfälle.
Was ist das Neue am heutigen Antisemitismus?
Was lernen wir aus all dieser antijüdischen Feindseligkeit? Trotz des Schreckens des Holocausts, der doch, so die Hoffnung vieler Juden, das neuerliche ungehinderte öffentliche Ausleben des Antisemitismus unmöglich machen müsste, bricht sich letzterer erneut Bahn. Gibt es also einen neuen Antisemitismus? Es gibt ihn, und während das meiste auf bekannte antisemitische Stereotypen rekurriert, erscheinen einige Charakteristika der heutigen Feindseligkeit gegenüber Juden und teilweise auch gegen das Judentum selbst tatsächlich neu.
Erstens wurde der Judenhass, wie so vieles heute, globalisiert, und er überschreitet ohne Mühe Grenzen, ja, er verbindet sogar. In der Vergangenheit hatten Feindseligkeiten gegenüber Juden eher zu lokal begrenzten Aktivitäten geführt, doch Dank des Internets und anderer globaler Medien gehört der Antisemitismus heute der Allgemeinheit. Mit nur einem Tastendruck kann er der ganzen Welt zugänglich gemacht und verbreitet werden.
Zweitens greift man zwar auf das alte Repertoire erfundener Vorwürfe zurück – dass die Juden unter sich bleiben wollten, verschwörerisch, geldgierig, manipulativ und räuberisch seien –, doch ist der Antisemitismus äußerst anpassungsfähig und entwickelt sich weiter. Wie bereits beschrieben, werden die Juden als »Vergifter« verunglimpft, aber anstelle der Verschmutzung von Brunnen, wie im Mittelalter, oder der des Blutes, wie bei den Nazis, wird ihnen heute die Verunreinigung der Umwelt selbst oder die Schädigung der DNA vorgeworfen.
Drittens liegen heute die virulentesten Zentren des Antisemitismus in der muslimischen Welt; der Antisemitismus geht nicht mehr, wie in der Vergangenheit, vom Christentum aus. Obwohl ein Teil dieser aggressiven Abneigung als bloße Reaktion der muslimischen Welt auf Israels Behandlung der Palästinenser abgetan wird, so ist diese Wut doch weit älter als die letzten Intifadas, und sie speist sich aus der arabischen-muslimischen Kultur. Wer muslimischen Antisemitismus verstehen will, muss ihn sowohl als Teil einer Krise innerhalb des Islams als auch als tief empfundene Abscheu gegenüber dem Westen sehen.
Viertens, und dies ist wohl das Charakteristische des Neuen Antisemitismus: Einige der unglaublichsten Vorwürfe gegen die Juden gehen heute einher mit den bösartigsten Anschuldigungen gegen den jüdischen Staat.
Infragestellung nicht der Politik, sondern des Existenzrechts Israels
Israels Politik, jüdische Siedlungen in der Westbank und in Gaza (die 2005 vollständig aufgegeben wurden) zu unterstützen, war lange Zeit der Ausgangspunkt für hitzige Debatten; ebenso hat die manchmal schroffe Behandlung der palästinensischen Araber in diesen Gebieten negative Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Diese Politik und diese Maßnahmen zu kritisieren, ist für sich genommen noch nicht antisemitisch. Aber Israel einen Nazi-Staat oder einen Apartheidstaat zu nennen, wie es häufig getan wird, oder aber ihm ethnische Säuberungen und gar einen Genozid vorzuwerfen, sprengt jegliche Grenzen legitimer Kritik. Neben den Vereinigten Staaten, mit denen Israel von seinen Feinden fast immer in Verbindung gebracht wird, wird kein Land dieser Welt so heftig verunglimpft wie der jüdische Staat. Mehr noch: Diejenigen, die Israel als Unrechtsstaat beschimpfen, finden sich sowohl auf der Rechten als auch auf der Linken, unter den Intellektuellen wie auch bei den bildungsfernen Schichten, unter Christen wie auch bei den Muslimen.
Oft gilt der Kampf nicht Israels Politik, sondern seiner Legitimität und seiner Existenz. Es geht den schärfsten Kritikern Israels schon lange nicht mehr um 1967 und um die territorialen Eroberungen nach dem militärischen Sieg im Sechstagekrieg, sondern um 1948 und die so genannte »Schandtat« beziehungsweise »Ursünde«: Es geht um die Gründung Israels an sich. In anderen Worten: Die Diskussion dreht sich nicht um Landesgrenzen, sondern um Israels Ursprung und sein Existenzrecht. Ein Merkmal des Neuen Antisemitismus ist zutiefst beunruhigend: Israel wird ausgesondert. Allein der jüdische Staat als politische Entität hat kein Recht auf Sicherheit und souveräne Existenz. Wie Jacqueline Rose, die Autorin von The Question of Zion (Princeton University Press 2005), es ausdrückt: »Die Seele dieser Nation war vom Tag der Staatsgründung an verloren.«
Eine jüdische Antizionistin: Jacqueline Rose
Rose symbolisiert ein erschütterndes Charakteristikum des Neuen Antisemitismus, und zwar die Beteiligung von Juden an diesem, insbesondere in seiner sich als Antizionismus gebärdenden Ausdrucksform. Ihr Buch ist ein erschreckend offenes Beispiel für diese Tendenz. The Question of Zion, mehr eine Anklage denn eine Untersuchung des Themas, gewidmet »der Erinnerung an Edward Said«, ist als Spiegelbild von Saids The Question of Palestine zu verstehen. Rose ist zwar fasziniert vom Zionismus, aber »angewidert« von dessen, wie sie es ausdrückt, schweren Fehltritten. »Gewalt ist das Schicksal des jüdischen Staates« (S. 124), schreibt sie, als wäre dies vom ersten Tag an vorherbestimmt gewesen. Mehr noch: Die »brutale Macht« dieses Staates habe nicht nur »Unrecht« über die Palästinenser gebracht, sondern »die moralische Bestimmung Israels« unterminiert (S. 133), die eigene »Sicherheit und das geistige Wohlergehen« gefährdet (S. 85), und sie bringe heute gar die »Sicherheit des Diaspora-Judentums in Gefahr«, indem Israel einen neuen Antisemitismus provoziere (S. xviii). Zusammengefasst sei Israel in seiner heutigen Verfasstheit »schlecht für die Juden«
(S. 154) und überhaupt für jeden anderen Menschen auf der Welt.
Rose, die sich stark auf die dubiosen Methoden der Psychohistorie beruft, beginnt ihre Analyse des Zionismus mit einem ausgedehnten Exkurs zu einer der verheerendsten Persönlichkeiten der jüdischen Geschichte – Shabbatai Zvi nämlich, dem angeblichen Messias aus dem siebzehnten Jahrhundert, der später vom Judentum abfiel und zum Islam übertrat –, die sie als »Proto-Zionisten« beschreibt. Überzeugt, dass es eine »direkte Linie« (S. 3) von dieser anomalen Figur bis zum heutigen Zionismus gibt, fährt sie fort, Theodor Herzl als eine Shabbatai Zvi verwandte Seele zu beschreiben. Was beide Männer, folgt man der Autorin, angetrieben habe, sei die leidenschaftliche Begeisterung gewesen, die auch den jüdischen Messianismus befeuere, den Rose mit Wahnsinn assoziiert. Zionismus, die neueste Inkanation der messianischen Raserei, speise sich aus ähnlichen Quellen: »Wir betrachten Zionismus als eine Form kollektiven Wahnsinns. « (S. 17) Und all jene, die ihn unterstützen, sind Teil einer Gruppenneurose. Ihrer Meinung nach waren alle frühen zionistischen Denker und Aktivisten von diesem Wahnsinn auf die eine oder andere Art und Weise ergriffen.
Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. Wie fast alle Geschichten des Zionismus zeigen, waren die Gründer Israels durchweg säkulare Zionisten, die religiöse Vorstellungen wie die Auserwähltheit und den Messianismus ablehnten. Die Mehrheit ihrer Nachfolger distanzierte sich ebenso von solchen Ideen und errichtete den Staat nach den pragmatischen und rationalen Grundsätzen anderer moderner Staaten. Rose aber will davon nichts wissen. Sie glaubt lieber, dass Israels Elite, inspiriert von den Auswüchsen Shabbatais und des Messianismus, die dem Zionismus immanente »latente Gewalt« auf brutale Art und Weise zum Vorschein und somit die »Tragödie« über »beide Völker in Israel-Palästina« brachte (S. xvi).
Sie benutzt gern den Ausdruck »Tragödie«, um die Sünden des Zionismus zu beschreiben, doch noch lieber sind ihr die schrillen Töne, um ihre Ablehnung auszudrücken, weshalb sie auf den Terminus »Katastrophe« zurückgreift. Dieses Wort – Katastrophe – ist, zumal in seiner ständigen Wiederholung, wohl kaum als ein neutraler Begriff im Nahostkonflikt zu verstehen, da es die Übersetzung für al nakba ist. Dieses arabische Wort steht für die Ereignisse von 1948, die den Israelis einen unabhängigen Staat brachten und den Palästinensern Niederlage und Zerteilung. Weil Rose sich stark an diese Lesart der Geschichte anpasst – »Ich glaube, die Gründung Israels führte zu einer historischen Ungerechtigkeit gegenüber den Palästinensern« (S. xvi) –, ist ihr Wortschatz zur Beschreibung des Zionismus und seiner Fehltritte durchweg negativ: »Todesqualen«, »qualvoll«, »kriegerisch«, »blutig«, »brutal«, »verheerend«, »korrupt«, »gewalttätig«, »gefährlich«, »tödlich« und »militaristisch« wechseln sich ab mit »apokalyptisch«, »blind«, »verrückt«, »trügerisch«, »schmutzig«, »dämonisch«, »fanatisch«, »wahnsinnig« und »geistig nicht zurechnungsfähig«. In diesen Worten beschrieben, wirkt der Zionismus gleichzeitig genial und albtraumhaft, rücksichtslos und wahnhaft.
Mehr noch: Rose mutmaßt, dass er diese explosive Mischung seit seinen Anfängen in sich trug: »Bei der Gründung des Zionismus wurde die Katastrophe mit eingewoben.« (S. xiv) Den meisten Akademikern widerstrebt es heute, über Nationalgeschichte in Kategorien von offenkundigem Schicksal oder ungebrochenen Kontinuitäten über die Jahrhunderte hinweg zu denken, doch Rose schreibt weniger eine tatsächliche Geschichte; vielmehr konstruiert sie einen psychopolitischen Mythos über Israels Anfänge und Entwicklung. Da es sich bei diesem Mythos um einen besonders negativen handelt, geraten die Umstände nach der Staatsgründung nur noch schlimmer. Davon überzeugt, dass die Juden Israels den Palästinensern ein nahezu unvergleichliches Los aufbürden, stellt sie die Frage aller Fragen: »Wie konnte es kommen, dass das den schlimmsten Verfolgungen ausgesetzte Volk einige der schlimmsten Verbrechen der modernen Nationalstaaten verübte?« (S. 115)
Verglichen mit den wahrlich erschreckenden Verbrechen anderer Nationalstaaten – man denke an den Sudan, Kambodscha, Slobodan Milosevics Serbien oder Augusto Pinochets Chile – sieht Israels »Akte« eigentlich relativ gut aus. Doch unter Verzicht auf jegliche vergleichende Perspektive klagt die Autorin einzig Israel an. Sie bestreitet nicht die »Legitimität des Wunsches des jüdischen Volkes nach einem sicheren Hafen« (S. 146), aber sie bereut die Form, die dieser Wunsch annahm. Rose glaubt, dass sich Israel im »Niedergang« (S. 154) befindet und offensichtlich »in Gefahr ist, sich selbst zu zerstören« (S. 155).
Zum Beweis bezichtigt sie Israel der mutwilligen Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft, die »vollständige Zerstörung der Stadt Jenin« (S. 103) im April 2002 inbegriffen. Wie so vieles in diesem fehlerhaften Buch ist diese Anschuldigung entweder ein eklatanter Fehler oder aber eine absichtliche Unterstellung. In Erwiderung palästinensischer Selbstmordattentate kämpfte die israelische Armee gegen palästinensische Extremisten in einem Flüchtlingslager neben der Stadt, wovon Jenin selbst unberührt blieb. Zu behaupten, dass die Stadt dem Erdboden gleich gemacht worden ist, ist entweder fehlende wissenschaftliche Kenntnis oder blinder Glaube – oder beides. [8]
Als ob das bisher Ausgeführte nicht schon schlimm genug wäre, greift Rose nach der ultimativen Waffe des antisemitischen Arsenals, um zu zeigen, wie verdorben der Zionismus ist – die angebliche Verbindung zwischen der jüdischen Nationalbewegung und den Nazis –, und erzählt diese durchweg haltlose Geschichte: »Es war die gleiche Wagner-Aufführung in Paris, die – unwissentlich und ohne sich vorher gekannt zu haben – sowohl von Theodor Herzl als auch von Adolf Hitler besucht wurde. Den einen inspirierte die Aufführung, den Judenstaat zu schreiben, den anderen Mein Kampf.« (S. 64f.) Einmal abgesehen davon, dass Herzl schon 1904 starb und Hitler seinen Fuß erstmals 1940 während seines triumphalen Siegeszugs in die französische Metropole setzte, ist diese Geschichte auch sonst völlig unglaubwürdig. Selbst wenn es eine historische Grundlage dafür gäbe, Hitler das Opernhaus zu einer Zeit besuchen zu lassen, als Herzl noch lebte – und eine solche gibt es einfach nicht –, so wäre Hitler doch noch ein Kind gewesen, kaum in der Lage, zu Mein Kampf inspiriert zu werden. Natürlich dürfte Rose dies gewusst haben. Warum also zieht sie diese historisch unmögliche Parallele zwischen dem Begründer des Zionismus und dem Führer der Nazi-Bewegung?
Wie um eine offensichtliche Erklärung abzuwehren, fühlt sich Rose mehr als einmal dazu berufen zu erklären, dass Israelkritik nicht gleichbedeutend sei mit Antisemitismus, und damit hat sie auch erst einmal Recht. Doch wie beurteilen wir dann ihre wiederholten Verweise auf »das Unrechtssystem Israel« (S. 115), auf dessen »Kapazität des Bösen« (S. 103), die »fundamentale Kriegslust« und immanente »Gewaltbereitschaft«; wie beurteilt man Attribute wie »hysterisch« und »wahnhaft«, wenn keine dieser verurteilungswürdigen Qualitäten verwendet werden, um Israels Nachbarstaaten zu beschreiben, die nicht gerade für ihre tolerante und friedvolle Umgangsweise bekannt sind?
Die vielen falschen Anschuldigungen und Begebenheiten deuten auf eine generelle Schieflage in der Herangehensweise an das Thema durch Jacqueline Rose. Mehrere Male äußert sie ihre Abneigung gegen »die Verbrechen, die der israelische Staat täglich im Namen des jüdischen Volkes begeht« (S. 11). Jenseits solcher Argumentationen gibt es keine einzige Stelle, an der sie sich besorgt über das Wohlergehen des jüdischen Volkes äußert. Tatsächlich zeigt Rose nur Antipathie für kollektive Identitäten jeglicher Art und für ethnische oder nationale Identitäten im Besonderen. Wie anderen Postmodernisten ist ihr das Konzept der »Nation« suspekt, und umfassende Nationalbewegungen wie der Zionismus sind ihr ein Gräuel. Wenn sie schreibt, dass »Israel sich einer Art des Nationalismus verschrieben hat, vor der Juden vormals zu fliehen gezwungen waren« (S. 83), kommt sie dem Vergleich zwischen Zionismus und deutschem Antisemitismus in seiner eliminatorischen Ausformung erneut gefährlich nahe. Wie schon bei ihrem historisch misslungenen Versuch, Herzl mit Hitler zu verbinden, sagen solch negativ konnotierte Vergleiche nichts über den Zionismus aus, sondern offenbaren allein die problematische Identität der Autorin als eine antizionistische Jüdin, konfrontiert mit der Existenz des jüdischen Staates.
Ein Genozid und die gesamte Judenheit als Komplize: Michael Neumann
Roses Unbehagen ist aber noch milde angesichts des pathologischen Furors, den andere antizionistische Juden entwickeln. Als ein eindrückliches Beispiel sollten wir die Reflektionen über Israel und den heutigen Antisemitismus Michael Neumanns näher betrachten. Michael Neumann ist Professor für Philosophie an der Trent University in Kanada und Autor von What is Left: Radical Politics and the Radical Psyche. [9] Er wirft Israel »zionistische Gräueltaten« und »einen Rassenkrieg gegen die Palästinenser« vor. In diesem Krieg gehe es um nichts Geringeres als um die »Ausrottung des palästinensischen Volkes«, ein »freundlicherer, sanfterer Genozid, der seine Opfer als Täter darstellt«.
Die Palästinenser »werden erschossen, weil alle Israelis glauben, die Palästinenser sollten verschwinden oder sterben. [...] Dies ist nicht der tödliche Fehler einer blinden Supermacht, sondern der eines aufstrebenden Übels«. Mehr noch: Schuldig sind nicht allein die Israelis, sondern die Juden generell, da »sie in ihrer Mehrheit einen Staat unterstützen, der Kriegsverbrechen verübt«. Diese Unterstützung schließt alle Juden mit ein, unterstellt Neumann – er geht sogar soweit zu behaupten, dass die »jüdische Mittäterschaft viel höher ausfällt als die deutsche Mittäterschaft« an den Verbrechen des Holocausts während des Naziregimes.
Er ist sich bewusst, dass eine Einschätzung, die Juden in solch schwarzen Farben malt, auf Ablehnung stoßen muss, riskiert dies aber in vollem Bewusstsein. »Wenn man sagt, diese Auffassungen seien antisemitisch, so ist es vielleicht sinnvoll, antisemitisch zu sein.« Mehr noch: »Ein bisschen Antisemitismus ist akzeptabel.« Was würde er sagen, fragt man sich, wenn ein »akzeptables« Maß an Antisemitismus zu einem Ausbruch an Gewalt gegen Juden führen würde? Seine Antwort: »Wen interessiert’s? [...] Das Vergießen jüdischen Blutes als welterschütterndes Unheil anzusehen ist Rassismus, nämlich die Höherbewertung des Blutes der einen Rasse gegenüber allen anderen.« [10]
Diese Denkweise ist so atemberaubend schief, dass man kaum weiß, wie man mit ihr umgehen soll. Erstens definieren sich Juden weder als einer bestimmten Rasse zugehörig, noch bewerten sie das Leben anderer entsprechend deren »Blut«. Dies zu behaupten, zeugt entweder von himmelschreiender Ignoranz oder aber von ausgesprochener Boshaftigkeit. Die meisten Juden in Israel – weit davon entfernt, jedem Palästinenser den Tod zu wünschen, wie Neumann behauptet – suchen nach Wegen, friedlich mit den Palästinensern zusammen zu leben oder aber ihnen aus dem Weg zu gehen. Die Behauptung, Israel sei zu einem »Genozid« entschlossen oder führe gar einen »Rassenkrieg«, hält weder einer vernünftigen historisch-vergleichenden Analyse stand noch einer Beurteilung unter rechtlichen Gesichtspunkten. Wenn man nach »Rassismus« in diesem Konflikt suchen will, wird man ihn eher auf Seiten der Palästinenser finden, in ihren Lehren und Predigten über die Juden, denn andersherum. Israels Ziel ist es, sich vom Belagerungszustand zu befreien, in dem es sich seit seiner Gründung befindet, und so etwas wie ein normales Leben zu führen. Zeitgleich tut Israel, was es für nötig hält, um seine Bürger davor zu beschützen, von palästinensischen Selbstmordattentätern, die tatsächlich Teil einer »Ausrottungs«-Kampagne sind, in die Luft gesprengt zu werden, während sie in Cafés oder in Bussen sitzen.
Angesichts ihres Wissens aus erster Hand, welch tödlichen Charakter Antisemitismus annehmen kann, ist nicht anzunehmen, dass es viele Juden in Israel gibt, die Antisemitismus als »akzeptabel« oder gar »vernünftig« ansehen. Professor Neumann glaubt nicht nur, sondern rät sogar, »wir sollten Antisemitismus niemals ernst nehmen, ja vielleicht sollten wir unseren Spaß damit haben«. Wie viele andere Juden, möchte man fragen, werden mit ihm nach einem solchen Spaß streben?
Tatsächlich gibt es eine Menge Gleichgesinnter, wie jeder, der im Internet nach »Juden gegen Israel« sucht, sehen wird. Hunderte von Einträgen erscheinen hier, die sich anhören wie Neumann; viele repräsentieren einen Antisemitismus der aggressivsten Ausformung.
Jüdische Opposition gegen den Zionismus – die historische Perspektive
Opposition gegen den politischen Zionismus ist natürlich keine neue Entwicklung im jüdischen Denken, und sie war besonders in der vorstaatlichen Phase eine ausgeprägte Neigung in bestimmten politischen, religiösen und intellektuellen Kreisen. Jüdische Marxisten werteten regelmäßig den Zionismus als imperialistisch ab, als kolonialistisch, rassistisch und repressiv. Sie interpretierten ihn als einen ideologischen Feind derjenigen, die auf der Seite der Unterdrückten im Klassenkampf standen. Am anderen Ende des Spektrums betrachteten die gesetzestreuen Juden um Neturei Karta und andere orthodoxe Gruppen die Idee eines jüdischen Staates vor der Ankunft des Messias als blasphemisch und argumentierten auf der Basis religiöser Grundsätze leidenschaftlich gegen ihn.
Aus anderen Gründen lehnten Reformjuden in den Vereinigten Staaten die Idee einer territorial gebundenen, unabhängigen jüdischen Nation ab und wiesen jegliche Ansprüche, die vom politischen Zionismus an sie herangetragen wurden, zurück. Einige bekannte liberale jüdische Intellektuelle, die davon überzeugt waren, dass die Gründung eines souveränen jüdischen Staates in Palästina von der arabischen Bevölkerungsmehrheit nicht akzeptiert werden und unabdingbar zu einem endlosen Krieg führen würde, bekämpften die Ambitionen des Zionismus, ein eigenes nation building zu betreiben, und befürworteten stattdessen einen binationalen Staat.
Vor 1948 hatte jede dieser Gruppierungen ihre Anhänger, die teilweise auch noch nach der Staatsgründung in Opposition zum Zionismus standen. Als die politische Souveränität jedoch eine Tatsache war und aus der kleinen, aber bekämpften jüdischen Nation eine Quelle des Stolzes wurde, verringerte sich der Antizionismus unter den Juden, insbesondere nach dem Krieg im Juni 1967, obwohl er nicht gänzlich verschwand. In den letzten Jahren konnte man eine Art antizionistisches Revival beobachten, besonders unter jenen Juden, die sich zur Linken zählen.
Tony Judt: »Israel ist schlecht für die Juden«
Der Historiker Tony Judt beispielsweise veröffentlichte in den letzten drei Jahren eine Reihe von zunehmend verbitterten Artikeln in der Nation, in der New York Review of Books und in der Ha’aretz, in denen er Israel als arrogant, aggressiv, anachronistisch, infantil bis hin zur Dysfunktionalität, als unmoralisch und als eine primäre Quelle des heutigen Antisemitismus bezeichnete. »Israel heute ist schlecht für die Juden«, so Judt, und es würde sowohl ihnen als auch allen anderen Menschen einen Dienst erweisen, wenn es aufhörte zu existieren. »Die Zeit ist gekommen, das Undenkbare zu denken«, und das sei, laut Judt, »den jüdischen Staat durch einen einzigen, integrativen, binationalen Staat der Juden und Araber zu ersetzen«. [11]
Diese Idee ist alles andere als neu, sondern vielmehr ziemlich alt und inzwischen reichlich diskreditiert und ausrangiert. Jeder weiß, dass eine solche Entität, falls sie jemals Wirklichkeit werden sollte, über kurz oder lang ein arabisch dominierter Staat werden würde und die verbleibenden Juden im besten Falle eine tolerierte Minderheit wären. Durch einen solch hinfälligen Vorschlag, der der territorial verankerten jüdischen Existenz ein Ende setzen würde, vereine sich Judt, wenn auch unabsichtlich, mit älteren Formen der christlichen Opposition gegen jüdischen Partikularismus, so Benjamin Balint: »Israel ist lediglich das neue Kampffeld, auf dem der alte Krieg gegen die jüdische Andersartigkeit geführt wird.« [12] Nichtsdestotrotz hat Judt seine Anhänger, und die Rede von der Auflösung des jüdischen Staates und seiner Ersetzung durch einen binationalen Staat ist in gewissen intellektuellen Kreisen wieder en vogue.
Sammlung von Kritiken
Um solche Ressentiments in ihrer ganzen Bandbreite dargestellt zu bekommen, kann man kaum etwas Besseres tun, als zwei neu veröffentlichte Sammelbände zu lesen: Wrestling with Zion: Progressive American Jewish Responses to the Israeli-Palestinian Conflict, herausgegeben von Tony Kushner und Alisa Solomon (New York, 2003), sowie Radicals, Rabbis and Peacemakers: Conversations with Jewish Critics of Israel, herausgegeben von Seth Farber (Monroe ME, 2005).
Im erstgenannten Buch liest man von der israelischen »Apartheid«, dem »Rassismus«, dem »Kolonialismus« und den »ethnischen Säuberungen«. Diese Beschreibungen sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil des Diskurses innerhalb der »fortschrittlichen« amerikanischen Juden geworden, die es für erwiesen halten, dass Israel ein Angriffsstaat ist, an Verbrechen schuldig, die vergleichbar sind mit denen von Hendrik Verwoerds Südafrika und jenen Hitlerdeutschlands. Für den Zionismus sind jene Tage unwiederbringlich vorbei, als er innerhalb der Linken noch als eine jüdische nationale Befreiungsbewegung galt. Joel Kovel, Professor am Bard College, der ein Buch über das postzionistische Israel schrieb, sieht den Zionismus »als eine äquivalente Form des Rassismus« und kann nicht vergessen, dass das »jüdische Heimatland auf dem Rücken eines anderen Volkes durchgesetzt wurde« (S. 357).
Die prominente Dichterin Adrienne Rich behauptet, dass schon allein das Wort »Zionismus wie ein Brandsatz wirkt«; es sei »so durchdrungen von Idealismus, der Herkunft, der Idee von Blut und Boden, in Erinnerung an das eigene Opfersein und im Anspruch auf das Recht, andere zu Opfern zu machen«, dass es »angesichts der Realitäten des 21. Jahrhundert aufgelöst werden muss« (S. 164). Sie sagt nicht genau, was mit diesen »Realitäten« gemeint sein könnte, aber in Anbetracht ihres extraterritorialen Ideals der »Juden ohne Grenzen« (S. 165) ist klar, dass in ihren Augen das Wort »Zionismus«, zusammen mit dem gesamten zionistischen Projekt, seine Schuldigkeit getan hat und beendet werden sollte.
Ein weiterer Beitrag stammt von Sara Roy, die sich selbst als Tochter von Holocaust-Überlebenden bezeichnet. Sie schreibt, dass es »innerhalb der jüdischen Gemeinde immer als eine Form der Häresie betrachtet wurde, wenn man die israelische Politik und das israelische Vorgehen mit den Nazis verglich« (S. 176). Daraufhin fährt sie fort, genau dies zu tun, indem sie Israel vorwirft, die Besatzungspolitik der Nazis zu übernehmen.
In einer etwas verkürzteren Form erklärt Irene Klepfisz, eine Dichterin und Holocaust-Überlebende, dass »man ein Opfer sein kann und gleichzeitig ein Täter«
(S. 367). Eine stark vereinfachende Anschuldigung, die regelmäßig von jenen vorgebracht wird, die Israels Image beschmutzen möchten, indem sie falsche Parallelen zwischen den Juden als Opfern und jenen, die sie zu Opfern machten, ziehen.
Einige unter den Israelkritikern sind noch aus anderen Gründen wütend auf das Land: In ihren Augen ist der Judaismus den Sünden Israels zum Opfer gefallen, und sie schätzen ihre religiösen Prinzipien höher als die Existenz des Staates. »Ich bin nicht gegen Israel«, schreibt Douglas Rushkoff, ein New Yorker Autor, der über Medien und Kultur schreibt. Seine Ablehnung begründet er vielmehr mit seiner Sicht auf Israel als »nationalisiertes Flüchtlingslager«, das einen »Abfall von den jüdischen Idealen darstellt, nicht ihre Verwirklichung. [...] Wir haben zwar ein kleines Stück Land, aber auf dem Weg dahin verlieren wir unsere Religion« (S. 181f.).
Daniel Boyarin, ein Professor für Talmudstudien an der Universität von Kalifornien in Berkeley, stimmt Rushkoff zu und übertrifft ihn in der Kritik. So wie das Christentum vielleicht in Auschwitz, Treblinka und Sobibór gestorben sei, so, »fürchte ich, stirbt mein Judentum in Nablus, Deheishe, Beteen (Beth-El) und al-Khalil (Hebron)«, lamentiert Boyarin. Wie so häufig ist die Parallelisierung mit dem Holocaust ein sicheres Zeichen, dass klares Denken durch blankes Ressentiment ausgetauscht wurde. In diesem Fall, wie in vielen anderen, wird die eigene jüdische Identität gegen den jüdischen Staat in Stellung gebracht.
Neue Rituale des Dissens
Um den von Israel zu verantwortenden angeblichen Schaden vom Judentum abzuwenden, entwickeln einige Juden Neuerungen für die praktische Religionsausübung. Juden, die Mitglieder von JATO (Jews Against the Occupation) sind, bauen beispielsweise eine »Anti-Besatzungs-Sukkah (Sukkothütte) mit Bildern von zerstörten palästinensischen Häusern« an den Wänden. Marc Ellis, ein Professor für Jüdische Studien an der Baylor Universität und Autor mehrerer aus einer befreiungstheologischen Perspektive geschriebener antizionistischer Bücher, schlägt vor, die Torahrollen in der Bundeslade durch Repliken von israelischen Kampfhubschraubern zu ersetzen, da diese die wahren Symbole des heutigen Israels seien, so Ellis (S. 155).
Antizionistische Juden haben zudem andere Rituale eingeführt, wie den Schwur auf die Nichterhebung ihres Rechtsanspruchs auf Rückkehr nach Israel – das Privileg der Einbürgerung also, das derzeit jedem Juden eingeräumt wird (es sei denn, er hat eine kriminelle Vergangenheit und könnte die öffentliche Sicherheit gefährden). »Weit davon entfernt, mich durch Israels Existenz in Sicherheit zu fühlen, fühle ich mich durch Israels Vorgehen beständig der Gefahr ausgesetzt«, schreibt Melanie Kaye/Kantrowitz. »Ich erkläre hiermit eine neue Art und Weise, jüdisch zu sein. [...] Ich verzichte auf mein Recht auf Rückkehr.« (S. 256) Bei der rituellen Beschneidung ihrer Söhne Meg Barnett und Brad Lander wurde eine ähnliche Erklärung abgegeben: »Wir sind glücklich, dich zu einem Juden zu erklären ohne das Recht auf Rückkehr. Dein Name steht für unsere tief empfundene Hoffnung, dass du deine jüdische Identität feiern und erkunden wirst, ohne sie mit Nationalismus zu verwechseln.« (S. 293)
Wie dieser Ausdruck eines jüdischen Dissens zeigt, gibt es eine Tendenz innerhalb der amerikanischen Juden, die sich selbst als »fortschrittlich« bezeichnen, antizionistische und antiisraelische Position zu übernehmen, die in ihrer Verurteilung denen der prononciertesten nichtjüdischen Antizionisten in nichts nachstehen. Man erkennt in ihren Schriften Leidenschaften der Bitterkeit, der Wut, der Entrüstung und der Zurückweisung, die jene der bloßen Kritik bei weitem übersteigen. Israel ist in ihren Augen eines großen Verrats schuldig und sollte daher bestraft werden. Und dies ungeachtet der Tatsache, dass mehr als eintausend seiner Einwohner in den letzten Jahren ermordet wurden und mehrere Tausend für immer verstümmelt. Ungeachtet auch der Tatsache, dass Israel, mehr als alle anderen Länder auf dieser Erde, ausgesondert sowie mit einseitigen und falschen Anschuldigungen wegen angeblicher Menschenrechtsverletzungen konfrontiert wird und ein regelmäßiges Ziel von Boykottkampagnen und Aufrufen zum Abbruch der Handelsbeziehungen ist. Und ungeachtet der Tatsache, dass Israel das einzige Land dieser Erde ist, dessen pure Existenz bereits als Affront gewertet wird, dessen Existenzrecht bezweifelt und dessen Zukunft öffentlich in Frage gestellt wird.
Keine historischen oder politischen Erklärungen für Israels aktuelles Dilemma werden von den jüdischen Israelkritikern akzeptiert, noch kann der jüdische Staat einfach von seinen vorgeblichen Missetaten freigesprochen werden. »Die Geschichte macht uns total verrückt. [...] Vergesst die Geschichte«, rät Irena Klepfisz (S. 358f.). Sie ist für weniger Erklärungen und für mehr Handeln – und zwar sofort!
Wie bereits andere »repressive« Regime zuvor wird Israel verurteilt, des Allerschlimmsten schuldig zu sein, und muss zur Räson gebracht werden. In ihrem Kommentar zu dem Vorwurf eines studentischen Aktivisten der Rutgers University, dass »Israel ein rassistischer Staat, ein imperialistischer Staat ist – und daher ein Paria-Staat ist und sein sollte«, bemerkt die Journalistin Esther Kaplan, »wenn dies nötig ist, um die Besatzung zu beenden, [...] so sollte Israel unbedingt ein Paria-Staat werden. [...] Die Zeit ist reif, dass Israel durch die Weltmeinung isoliert und gezwungen wird, einfach gezwungen wird aufzugeben« (S. 87).
Obwohl sie noch über relativ wenige Mitglieder verfügen, sind die Aktivisten in Gruppen wie A Jewish Voice for Peace, Jews for Peace in Palestine and Israel, Students for Justice in Palestine, The Labor Committee for Peace and Justice, The International Solidarity Movement und anderen »Gemeinschaften der von Prinzipien Geleiteten und Ungehorsamen« – der Terminus stammt von Susan Sontag (S. 348) – dennoch willens, ihre politischen Ziele durchzusetzen, und dies um jeden Preis. Zusammen mit anderen, die Israel für einen »rassistischen und imperialistischen Staat« halten, würden sie alles in ihrer Macht stehende tun, um aus Israel einen Paria-Staat zu machen. Die vollen Ausmaße ihres Handelns mögen diese Juden vielleicht nicht erahnen, da sie ihre Ambitionen in so wohlklingende Wörter wie »Frieden«, »Gerechtigkeit« und »Wiedergutmachung« kleiden. Sollten sie jemals mit ihren Bemühungen Erfolg haben, Israels ohnehin schon in Frage gestellten Status in den eines Schurkenstaates zu verwandeln, wäre das Ergebnis wohl kaum ein höheres Maß an Frieden und Gerechtigkeit, weder für die Israelis noch für die Palästinenser. Das Gegenteil wäre mit größerer Wahrscheinlichkeit der Fall.
Die Vorwürfe der »Fortschrittlichen«: Radikale, Rabbis und Friedensbewegte
Der wahre Endpunkt dieser Ansichten ist es nicht, die Israelis zu zwingen, sich aus den Gebieten zurückzuziehen, die sie seit 1967 besetzen, sondern das Ende des jüdischen Staates überhaupt zu erzwingen. In den meisten Aufsätzen in Wrestling with Zion wird dieses Ziel eher implizit geäußert, in Seth Farbers Sammlung von Interviews mit antizionistischen Juden jedoch offen ausgesprochen. In diesem Buch schreiben Noam Chomsky, Steve Quester, Joel Kovel, Norton Mezvinsky, Ora Wise, Norman Finkelstein, Phyllis Bennis, Adam Shapiro, Daniel Boyarin, Rabbi David Weiss und Marc Ellis, von denen die meisten als »fortschrittlich« bezeichnet werden.
Welche Aussagekraft der Terminus »fortschrittlich« auch immer gehabt haben mag: In Radicals, Rabbis and Peacemakers erscheint er als kaum mehr denn als selbstreferenzielle Laudatio – das gedachte Äquivalent zu moralischer und politischer Tugendhaftigkeit. Genau wie »Frieden«, »Gerechtigkeit« und vieles mehr im heutigen Wortschatz der linken Phrasendrescherei hat der Terminus »fortschrittlich« seine Bedeutung verloren, und in Farbers überschäumendem Buch erscheint er entweder als ehrfurchtsvolle Geste in Richtung politischer Utopien oder, in Richtung des Zionismus, um auf Ansichten zu verweisen, die man eigentlich nur reaktionär nennen kann. Das Israel, das in Radicals, Rabbis and Peacemakers entworfen wird, ist in seiner Beschreibung »unmoralisch«, »barbarisch«, »brutal«, »zerstörerisch«, »faschistisch«, »unterdrückerisch«, »rassistisch«, »unehrenhaft« und »unzivilisiert« – und nicht von dem Land zu unterscheiden, das radikale Antisemiten regelmäßig als Zerrbild von Israel zeichnen.
Wie von Farber und seinen Kollegen behauptet, ist Israel jeglicher Straftaten schuldig, die ein moderner Nationalstaat nur begehen kann – von »Apartheid« und »Staatsterrorismus« bis hin zu »ethnischen Säuberungen«, »Verbrechen gegen die Menschheit« und »Genozid«. Um diese extremen Anschuldigungen zu beweisen, wird nicht ein einziger überzeugender Beweis gebracht. Im Gegenteil: Wie man anhand der Aufsätze dieses Sammelbandes sehen kann, wird es als eine unhinterfragte Tatsache angesehen, dass Israel ein immanent rassistischer und über die Maßen brutaler Unterdrückungsstaat und ipso facto gemäß der Anklage zu verurteilen ist. Aufgrund seiner angeblichen rassistischen und systematischen Schandtaten wird der jüdische Staat in eine Reihe mit dem Ku Klux Klan und dem Südafrika während der Apartheidgesetzgebung gebracht. Falls diese Analogien zu zahm sein sollten, zitiert Farber vorsichtshalber den Theologen Marc Ellis, der härtere Analogien vorzieht: »Was die Nazis nicht zu Ende gebracht haben, [...] werden wir Juden jetzt vollbringen.« (S. 15)
Andere porträtieren das israelische Vorgehen mit ähnlich übertriebenen und verleumderischen Begriffen. Die palästinensische Terminologie übernehmend, nennt Joel Kovel Israels noch unvollständigen Sicherheitszaun eine »Apartheidmauer« und vergleicht das Leben der Palästinenser auf der anderen Seite mit dem der Juden im »Warschauer Ghetto« (S. 67). Jeder, der auch nur ein bisschen über die Bedingungen im Warschauer Ghetto weiß, wird diesen Vergleich für den gleichen Humbug halten wie den Versuch von Rose, Herzl und Hitler zu verbinden. Doch Kovel ist von der offensichtlichen Fehlerhaftigkeit seiner Analogien nicht abgeschreckt, sondern angetreten, Israel zu beschmutzen, und fährt mit seinen obszönen Ansichten fort.
In demselben Geist fragt sich Steve Quester, ob die Israelis »jetzt anfangen, Gaskammern zu bauen und sie alle zu ermorden« (S. 41), doch nimmt er diese Idee wieder zurück und stellt sich vor, dass es der israelische Plan ist, die Palästinenser einfach zu »terrorisieren« und sie »auszuhungern«. Seth Farber selbst hält an der aggressiveren Ansicht fest, die den »israelischen Rassismus« und den Antisemitismus der Nazis in eins setzt (S. 137). Rabbi David Weiss geht sogar noch weiter, indem er behauptet, die Zionisten seien »noch schlimmer als Hitler« (S. 206).
Kein ernst zu nehmender Historiker würde jemals das israelische Vorgehen mit den systematischen Straftaten der Apartheid in Südafrika oder gar mit der eliminatorischen Barbarei des Nationalsozialismus vergleichen. Der extreme Antizionismus, der sich in den oberen Zitaten Bahn bricht, wird auch nicht im Entferntesten von seriösen historischen Analysen befördert, sondern eher von einer komplexen Verbindung aus politischen und psychologischen Motiven, die den Verstand ausschalten und durch etwas ersetzen, das der Hysterie nahe ist. Wie es ein scharfsinniger Kommentator bemerkte, um das obsessive und selbstverleugnende Denken dieser Juden zu erklären: »Die Psychologen der Zukunft werden nicht unter Arbeitsmangel leiden.« [13] Ohne die Analysen vorweg zu nehmen, sollte man bereits heute auf die verstörendste Konsequenz dieses jüdischen Krieges gegen den jüdischen Staat hinweisen: In der linken Rhetorik, die der »fortschrittlichen« Juden inbegriffen, wurde das Wort »Zionismus« zum Inbegriff des Bösen, mithin einer gefährlichen und schändlichen Ideologie, die einen korrupten und schrecklichen Staat hervorgebracht habe. Das Ziel der Antizionisten ist es, den jüdischen Staat in die Knie zu zwingen, indem sie ihn in eine Reihe mit den verbrecherischsten Staaten des letzten Jahrhunderts stellen.
Um dieses Ziel zu verfolgen, werden in Farbers Radicals, Rabbis und Peacemakers selbst die Lehren des Judaismus herangezogen, wird der Zionismus als »Perversion« des Judaismus bezeichnet und der Staat, den er hervorbrachte, als »schrecklicher Fehler« verurteilt (S. 224). Farber, den religiösen Standpunkt der extrem orthodoxen Rabbis von Neturei Karta übernehmend, hält den jüdischen Staat für Häresie und wirft ihm vor, »einen Dolch in das Herz unserer Identität als Juden gestoßen zu haben« (S. 15). Nicht ein Autor dieses Buches weicht von dieser Linie ab. Im Gegenteil, eine Konstante ihres kollektiven Denkens scheint die Idee zu sein, dass Israel die prophetische Tradition betrügt, »den Kern des Judentums erdrückt« (S. 63) und demzufolge nicht erlöst werden kann.
Es ist hinreichend bekannt, dass die biblischen Propheten auf der Seite des Gesetzes standen und sich auch mit Kritik nie zurückhielten, wenn sich ihre Leute von den Gesetzen entfernten. Die heutigen Juden an diese Maxime zu erinnern, ist eine religiöse Pflicht und sollte nicht in Vergessenheit geraten. Aber die heiligen Bücher gegen den jüdischen Staat in Anschlag zu bringen und gleichzeitig die politischen und historischen Umstände des israelischen Vorgehens außer Acht zu lassen, ist nur eine hohle Geste in Richtung des religiösen jüdischen Denkens. Farbers Buch ist reich an solch oberflächlichen Gesten, da das Judentum immer wieder für politische Zwecke herhalten muss. Es wird leider auch nicht besser, wenn die Autoren vom Judentum absehen und die »Entzionisierung« Israel anderweitig zu begründen versuchen. Noam Chomsky, der Pate der »fortschrittlichen« Attitüde gegenüber dem Zionismus und Israel, verwirft das zionistische Projekt, spricht sich aber aus pragmatischen Gründen für die Zweistaatenlösung aus. Er sieht eine solche Lösung nur als einen »Zwischenschritt« an, »optimal wäre gar kein Staat« (S. 28).
Adam Shapiro, ein Aktivist des International Solidarity Movement und ehemaliger Mitstreiter von Yassir Arafat im belagerten Ramallah, sieht Chomskys Position als veraltet an und ist sich sicher, dass »die Zweistaatenlösung schon lange keine Option mehr darstellt« (S. 174). Ora Wise, ein anderer jüdischer Aktivist, der überzeugt ist, dass die Palästinenser von den Israelis systematisch »massakriert« werden, stimmt ihm zu: »Eine Zweistaatenlösung wird niemals zu echter Gerechtigkeit und Gleichheit führen.« (S. 106) Phyllis Bennis ist ebenfalls sicher, dass eine solche Lösung mit den Forderungen nach »Frieden und Gerechtigkeit« nicht in Einklang zu bringen ist (S. 148). Jovel Kovel, der die Israelis samt und sonders als Schlächter beschimpft, glaubt, dass die Juden einen großen Fehler machen, wenn sie denken, dass »es an Israel irgendetwas zu retten gäbe« (S. 72). Für ihn und seine »fortschrittlichen« Kollegen gibt es dies auf keinen Fall.
Was also bleibt diesen »Juden mit Gewissen«, wie Farber sie selbstgefällig nennt, zu tun? In seiner Selbstvergewisserung, dass »alles, was Menschen geschaffen haben, sie auch wieder zerstören können« (S. 68), schlägt Kovel für die vom Zionismus geschaffenen Probleme eine noch radikalere Lösung vor als Chomsky, der, im Kontext dieses Buches, mit seiner Zweistaatenlösung schon fast als konservativer Denker erscheint. Nach Kovels Ansicht leiden die Juden an, wie die Marxisten es gerne nennen, »falschem Bewusstsein«, und müssen ihren Geist von solch benebelnden Ansichten befreien, wie dem jüdischen Partikularismus, dem Außergewöhnlichen, der Ethnizität und dem Auserwähltsein – ja, sie müssen ihre Verbindungen zum alttestamentarischen Bund kappen. Da diese »zerstörerischen« Ideen in einen jüdischen Staat eingebunden worden seien, sei es wichtig, dass sich die Juden von einer solchen Mentalität befreiten und die »rauen und schmutzigen Praktiken des Zionismus« (S. 77) sowie den »illegitimen« Staat, den er hervorbrachte, durchschauten. Die jüdische Berufung ist es demzufolge, sich eines offenen und friedvollen Lebens in der Diaspora zu erfreuen, anstelle der Enge und Bedrohung innerhalb der Grenzen eines Nationalstaates. »Um echter Jude zu werden«, müssten die Juden laut Kovel »ihren Partikularismus ablegen«, »den Zionismus zerstören oder überwinden« und »den jüdischen Staat zerschlagen« (S. 63).
Wie Farbers »Dolch« im Herzen der jüdischen Identität, ist Kovels bildhafte Sprache voll der gewalttätigen Rhetorik, eine merkwürdige Haltung für einen eingeschworenen Friedensbewegten. Doch eine solch extreme Rhetorik ist heutzutage typisch für den »fortschrittlichen« Diskurs um Israel und den Zionismus, der seine ihm innewohnenden mörderischen Fantasien nicht länger zu maskieren sucht. Welch bizarre Blüten diese Fantasien treiben, mag Steve Questers Antwort auf die palästinensischen Selbstmordattentate innerhalb Israels beschreiben: »Als die Selbstmordattentäter einer nach dem anderen zündeten, dachte ich mir: ›Okay, jetzt wird jeder verstehen, wie schlimm das Verhalten der Israelis ist‹ [...] Also ging ich auf die Straße, kaufte mir einen kleinen Anstecker mit der palästinensischen Fahne und trug sie stolz den ganzen Tag.« (S. 34) Wie so vieles in Farbers Buch negiert diese theatralische Geste der Solidarität mit den »Unterdrückten« »fortschrittliches« politisches Denken bis zur Perversion und setzt es in Verbindung mit jenem Denken, das den Neuen Antisemitismus antreibt. Zu einer Zeit, da die Delegitimierung und schließlich die Zerstörung Israels von den Feinden des jüdischen Staates mit Inbrunst betrieben wird, ist es mehr als verstörend, dass Juden Teil dieser Verunglimpfung sind. Dass manche ihre Anklage im Namen des Judentums erheben, macht die Angelegenheit nur noch grotesker.
Merkwürdige Bettgesellen – und hochgradig falsche
Die Figuren, die im vorigen Kapitel zitiert wurden, bilden eine divergente Gruppe. Einige stehen außerhalb des zeitgenössischen jüdischen, intellektuellen Diskurses, andere bestimmen den Diskurs wesentlich. Dozenten, Lehrer, Autoren, Polit-Aktivisten, Dichter, religiöse Autoritäten und andere repräsentieren die eine Seite – sie nennen sich selbst stolz die »fortschrittliche« Seite des Diskurses. »Die Zeit ist gekommen, sich zu entscheiden, auf welcher Seite man steht«, fordert Jacqueline Rose. [14] In diesem Punkt hat sie Recht. Trotzdem irrt die politische Richtung, für die sie steht – sie stellt nämlich die Idee einer jüdischen Nation in Abrede, fordert weiterhin, in ihren Worten, sowohl »ökonomische und militärische Sanktionen gegen Israel, als auch einen akademischen Boykott«, und geht in ihrem ganzen Ansatz fehl. [15] Diese Denkweise ist in ihren Auswirkungen höchst gefährlich, da die Infragestellung des Existenzrechts des israelischen Staates und seiner moralischen Verfasstheit eben jenen Aufwind gibt, die Israel zerstören wollen, da sie deren eliminatorischen Zielen als jüdische Kronzeugen zur Seite stehen.
Heute gibt es viele wie Jacqueline Rose. Einige sind vielleicht nur ideologische Trittbrettfahrer, Juden, die die negativen Klischees über den Zionismus und Israel nachplappern, quasi als linkes Glaubensbekenntnis. Diese ideologisch gefärbte Politik verbindet heute Antizionismus mit Antikapitalismus, Antiimperialismus, Antiglobalisierung, Antirassismus etc. Daher wird von vornherein erwartet, dass man gegen den Zionismus ist und damit gegen den auf ihn gegründeten Staat, der angeblich »rassistisch«, »kolonialistisch« und »repressiv« ist. Wie der Politikwissenschaftler Andrei Markovits es ausdrückt: »Wenn man nicht wenigstens ernsthafte Zweifel an der Legitimität des Staates Israel (ganz zu schweigen von der Politik seiner Regierung) äußert, [...] läuft man Gefahr, von ›der Linken‹ ausgeschlossen zu werden«. [16] Allein die Tatsache, dass der Antizionismus – verstanden als die Negierung des etablierten Rechts der Juden auf ein sicheres Heimatland in Israel – Merkmale des antijüdischen Ressentiments der Vergangenheit in sich aufnimmt, scheint die jüdischen Anhänger dieser Politik entweder nicht zu stören, oder sie bemerken es nicht. Das ist nicht nur traurig, das ist Verrat. Über Jahrzehnte waren Individuen und Gruppierungen innerhalb der Linken erbitterte Gegner des Antisemitismus und bekämpften ihn. Heute mit anzusehen, wie die Nachfolger einen neuen, wieder erwachten Antizionismus unterstützen, der in vielem dem älteren Antisemitismus gleicht, ist bestürzend und entmutigend.
Genauso verstörend wie die kulturelle Kodierung selbst sind die jüdischen Intellektuellen, die mithelfen, jene zerstörerischen rhetorischen Tropen zu entwickeln und zu etablieren. Zur Bestürzung vieler hat Israel selbst eine alarmierend hohe Anzahl an Autoren, Dozenten und Journalisten hervorgebracht, die in diesen feindlichen Chor einstimmen. Einer von ihnen ist der Philosoph Yeshayahu Leibowitz, der weder ein Problem damit hat, von der »Nazifizierung« der israelischen Gesellschaft zu sprechen, noch damit, die israelische Armee als »Judeo-Nazis« zu beschimpfen. Und Leibowitz ist nicht der einzige, der eine solch abwertende Sprache benutzt.
Es ist eine traurige, aber bekannte Tatsache, dass einige der härtesten und leidenschaftlichsten Verleumder Israels, die den Staat des »Rassismus«, des »Faschismus«, der »Apartheid«, der »ethnischen Säuberung« und des »Genozids« für schuldig erachten, innerhalb der Staatsgrenzen wohnen. Ihre Verleumdungen stammen aus dem extremen Wortschatz des antizionistischen Spotts und der vernichtenden Kritik, aus denen auch die schärfsten Feinde des jüdischen Staates schöpfen. [17]
»Stolz sich zu schämen, ein Jude zu sein«
Innerhalb der englischsprachigen Welt sind die meisten Vordenker der rhetorischen Radikalisierung des »fortschrittlichen« Antizionismus in den Büchern Wrestling with Zion und Radicals, Rabbis und Peacemakers versammelt. Ihre Kollegen unter den britischen Juden sind jene, die der britische Anwalt Anthony Julius als Leute bezeichnet, die stolz darauf sind, sich zu schämen, Juden zu sein, unter anderem Jacqueline Rose, Hilary and Steven Rose (sie leiteten die Kampagne für den akademischen Boykott gegen Israel in Großbritannien), John Rose, Autor des polemischen Buchs The Myths of Zionism, und andere. Einige der härtesten antiisraelischen Ausfälle in der heutigen politischen Auseinandersetzung stammen von ihnen, wie die jetzt häufig zu hörende Aussage, dass »der Zionismus der wahre Feind der Juden sei«, das Gegenteil des Judentums, eine primäre Quelle des heutigen Antisemitismus. Demzufolge wäre die Auflösung Israels – beschrieben als moralisch verkommen, als ein Verbrecherstaat – nicht nur gut für die Juden, sondern für den Frieden auf Erden. Der kumulative Effekt dieser feindlichen Ideen, die sich von den Rändern zum Mainstream der »fortschrittlichen« öffentlichen Meinung ausbreiteten, war jener, dass das aggressive Potenzial, das man für eingeschlafen, wenn nicht gar für tot hielt, wieder erweckt wurde.
Wie andere Verkündungen über das Ende übler Ideologien war auch diese nicht nur verfrüht, sondern zudem grundsätzlich falsch. Weit davon entfernt auszusterben, wurde der alte Judenhass wiedererweckt und fand schnell seine Stimme, die heute zunehmend mit jüdischem Akzent spricht. Man hörte es beispielsweise in einem kürzlich erschienenen Kommentar von Richard Cohen, einem Journalisten der Washington Post, der mitten im Zweiten Libanonkrieg die Gründung Israels für einen »Fehler« hielt, der »ein Jahrhundert der Kriege und des Terrorismus hervorbrachte«. Cohen hat natürlich Recht mit der nicht enden wollenden Gewalt, aber irrt in der Bestimmung der Ursache. Statt die Verantwortung für den Terrorismus bei den Terroristen zu suchen, verdreht er einfach die Tatsachen und sagt: »Es gibt keinen Grund, der Hizbollah die Schuld zu geben.« Stattdessen beschuldigt er die Agenten einer abstrakten und fehlerhaften »Geschichte«, Israel überhaupt erst gegründet zu haben. Seine Zusammenfassung: »Den größten Fehler, den Israel jetzt machen könnte, ist zu vergessen, dass Israel selbst der Fehler ist.« [18]
Für andere ist Israel weniger ein Fehler als ein Verbrechen. Jene, die Israel mit genau solchen Bezeichnungen anklagen, sind heutzutage nicht nur reaktionäre Antisemiten oder revolutionäre Djihadisten, sondern auch Menschen mit so verdächtig jüdischen Namen wie Cohen.
»Zionismus [...] ist auf einer Unmöglichkeit gegründet, ein Leben damit oder darin wird zwangsläufig auch zur Lüge. [...] Zionismus kann nur seine Verbrechen wiederholen und weiter degenerieren. Nur ein Volk, das sich so hoch (über die anderen) stellt, kann so tief fallen.« [19]
»Der Zionismus und seine Träger sind die größte Bedrohung des Judentums. [...] Der zionistische Staat, Israel genannt, ist ein Regime ohne Existenzberechtigung.« [20]
Diese Zitate stammen aus einem neuen Buch, das nicht etwa in einem Propagandaverlag in Kairo, Teheran oder Damaskus erschien, sondern in einem Verlag in den Vereinigten Staaten. Als Unterrichtmaterial für die Schule, herausgegeben, um die Diskussion über Israel zu stimulieren, beginnt das Buch gleich im ersten Kapitel mit der unfassbaren Frage: »Sollte Israel existieren?« Kann man sich vorstellen, dass in einem amerikanischen Schulbuch eine solche Frage über ein beliebiges anderes Land gestellt werden würde? »Sollten Schweden, Ägypten oder Argentinien existieren?«, »Sollten Kanada oder Japan existieren?« Die Frage ist so absurd, dass sie niemals gestellt werden würde. Wenn es aber um Israel geht, wird die vorher undenkbare Frage pädagogisch wertvoll und werden Israels Existenz und Zukunft zum Planspiel im Klassenraum.
Die erschreckendsten und zugleich zerstörendsten Antworten auf solche Fragen kommen nicht – wie man denken sollte – von Mahmud Ahmadinedjad oder einem Hamas-Führer, sondern von Ahron Cohen und Joel Kovel. Der erste wird als Rabbi vorgestellt (assoziiert mit Neturei Karta), der zweite als Professor des Bard College, der die Juden schon mal aufruft, den »jüdischen Staat zu zerstören«. Beide schreiben in diesem Schulbuch unter aussagekräftigen Titeln; Cohens Artikel heißt: »Israel hat keine Existenzberechtigung«, und Kovels firmiert unter: »Israel sollte kein jüdischer Staat bleiben«. Wie die jungen Leser schnell lernen, kommen die Argumente für die Zerschlagung des jüdischen Staates von den Juden selbst – der Traum jedes Antisemiten wird wahr. Bedenkt man die Entwicklung des »fortschrittlichen« jüdischen Denkens, so sollte einen dies alles – so pervers es auch ist – nicht mehr verwundern.
[1] Oberrabbiner Dr. Jonathan Sacks: Thoughts for the day, 16. Dezember 2005, BBC
[2] In den öffentlichen Reden wiederholte Mahmud Ahmadinedjad seitdem regelmäßig seine aufwieglerischen Aussagen über Israel und seine abfälligen Bemerkungen über den Holocaust. In diesem Sinne fügt sich seine Rhetorik in die anderer iranischer Führer der letzten Jahre. Siehe auch Rubin, Michael: The Radioactive Republic of Iran, Wall Street Journal, 16. Januar 2006
[3] Der kürzlich von Edward Alexander und Paul Bogdanor veröffentlichte Sammelband The Jewish Divide over Israel: Accusers and Defenders (Piscataway, NJ, 2006) widmet sich sehr ausführlich dieser Thematik. Für eine kürzere, aber sehr prägnante Studie über den Antizionismus unter europäischen, jüdischen Intellektuellen siehe: Ottolenghi, Emmanuele: Europe’s Good Jews, Commentary Dezember 2005, S. 42-46.
[4] Pryce-Jones, David: Their Kampf, http://www.nationalreview.com, 29.06.2002
[5] Siehe Arsu, Sebnem: Istanbul Journal, If you want to make a film to fly, Make Americans the Heavies, New York Times, 14. Februar 2006.
[6] Syrian Government Daily suggests Israel Created, Spread Avian Flu, MEMRI Special Dispatch No. 1994, 16. Februar 2006.
[7] Siehe: Ahmadinejad Blames Israel for Cartoons, Associated Press, 11. Februar 2006
[8] Für eine detaillierte Übersicht über die voreingenommene Medienberichterstattung über die Kämpfe nahe Jenin siehe auch Gutmann, Stephanie: The Other War, Israelis, Palestinians, and the Struggle for Media Supremacy, San Francisco, 2005
[9] Neumann, Michael: What’s Left. Radical Politics and Radical Psyche, Peterborough ON, 1992.
[10] Neumann, Michael: What is Anti-Semitism? in Cockburn, Alexander / St. Clair, Jeffrey (Hg. ): The Politics of Anti-Semitism, Oakland CA, 2003, S. 3-6; 10.
[11] Judt, Tony: Israel: The Alternative, in: New York Review of Books, 23. Oktober 2003.
[12] Balint, Benjamin: Future Imperfect: Tony Judt Blushes for the Jewish State, in: The Jewish Divide over Israel, S. 65-75
[13] Ottolenghi: Europe’s Good Jews, S. 45
[14] Bechler, Rosemary: Nation as trauma, Zionism as question: Jacqueline Rose interviewed, vom 18. August 2005, unter: http://www.opendemocracy.net/debates/article.jsp?id=2&debateId=97&articleId=2766, S. 7.
[15] Ebenda.
[16] Markovits, Andrei: The European and American Left since 1945, in: Dissent, Winter 2005.
[17] Für weitere Beispiele siehe: Alexander, Edward: Israelis against Themselves, sowie Bogdanor, Paul: Chomsky’s Ayatollahs, in: Alexander/Bogdanor (Hg.): The Jewish Divide over Israel, S. 33-45, 115-134.
[18] Cohen, Richard: Hunker down with History, in: Washington Post vom 18. Juni 2006.
[19] Kovel, Joel: Israel Should not Remain a Jewish State, in: Woodward, John (Hg.): Israel: Opposing Viewpoints, Detroit, 2005, S. 40f.
[20] Cohen, Ahron: Israel Has No Right to Exist, in: ebenda, S. 29.
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