Die Deutschen inszenieren sich als Opfer: Ob in Dokudramen wie »Der Untergang« oder »Dresden«, ob in Buchform wie Jörg Friedrichs »Der Brand« oder Günter Grass´ »Im Krebsgang«. Mit dem ARD-Zweiteiler »Die Flucht« erreicht die Debatte eine neue Qualität. Absichtsvoll vergessen bleiben dabei die ersten Opfer von Flucht und Vertreibung: Es waren Juden, die den Deutschen nicht mehr als Deutsche galten.
»Der Exodus jüdischer und linker Künstler und Intellektueller aus Deutschland«, so beginnt Saul Friedländer sein Werk »Das Dritte Reich und die Juden«, »begann in den ersten Monaten des Jahres 1933, fast unmittelbar nach der Machtübernahme durch Adolf Hitler am 30. Januar. Der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin verließ am 18. März Berlin, um nach Paris zu gehen.« Flucht und Vertreibung, so führt Friedländer aus, standen schon ganz am Anfang des Nationalsozialismus. Die Odyssee endete oft tödlich; Benjamin selbst starb in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 an der französisch-spanischen Grenze wohl durch eigene Hand, um der Auslieferung an die Deutschen zu entgehen. Zug um Zug wurden im Deutschland der Deutschen Juden ihrer politischen, ihrer ökonomischen, ihrer sozialen Existenz beraubt. Wer dieser Situation überhaupt noch zu fliehen vermochte, es beispielsweise nach Amerika oder Palästina schaffte, hatte oft nur seine nackte physische Existenz gerettet. Sechs Millionen Juden konnten nicht fliehen, sie wurden ermordet. Fragmente der individuellen Geschichten der Opfer hat Saul Friedländer aufgeschrieben, und ihnen den geschichtlichen Rahmen gegeben: nämlich mit einer Volksgemeinschaft konfrontiert zu sein, deren kollektiver Antisemitismus zum Massenmord führte, deren heute so massenhaft postulierter antifaschistischer Widerstand sich, wenn er nicht gänzlich nachträglich rechtfertigende Lüge ist, zumeist auf stille Duldung oder innere Emigration beschränkte.
Dies alles kann nicht als Geschichte in Daten, Dokumenten und Zahlen erledigt werden. Wenn eine solche Geschichte nämlich sich von individuellem Erleben, Entscheiden, Handeln und auch Leiden dispensiert, wenn sie mit Abstraktion, Typologie und Numerik auszukommen glaubt, von der anachronistischen Vorstellung einer Geschichte als dem Handeln weniger Großer ganz zu schweigen, dann kann sie viel zu erklären versuchen: aufzuklären vermag sie nicht. Denn Aufklärung ist eben nicht, und das wurde von Immanuel Kant bis Max Horkheimer immer wieder betont, bloße Akkumulation von Daten und von Fakten, von nur vermeintlichem Wissen, sondern die In-Beziehung-Setzung des Gewussten zum wissenden Subjekt selbst. Aufklärung bedeutet immer auch eine Veränderung des sich selbst aufklärenden Subjekts. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist eine Unmöglichkeit, die Aufklärung über das Vergangene in beschriebenem Sinne aber durchaus möglich. Wird sie nicht gewagt, so ist sie nicht gewollt.
Es kann nicht darum gehen, wie jüngst Gerhard Scheit darlegte [1], positivistisch zu dokumentieren, sondern Geschichte »im Eingedenken« zu bezeugen, »die Erfahrungen und die Hoffnung der Opfer kontinuierlich den Handlungen und dem Bewusstsein der Täter entgegenzusetzen«. Das allerdings ist die notwendige Zumutung für jedes sich damit auseinandersetzende Subjekt: Sapere aude! Saul Friedländers zweibändige Geschichte »Das Dritte Reich und die Juden« ist eben eine solche Zumutung. Dies ist in der geschichtswissenschaftlichen Literatur äußerst selten; vielmehr ist diese oft von einer eiseskalten Empathielosigkeit geprägt; weder die Statistik noch die politischen und historischen Kategorien und Theorien vermögen den Leser in die Auseinandersetzung – letztlich mit sich selbst – zu zwingen; eine solche Literatur tendiert mit einiger Notwendigkeit dazu, das Grauen wissenschaftlich zu erklären, mithin zu rationalisieren.
Anders als im akademischen wird im öffentlichen politischen und medialen Raum die Geschichte zunehmend entkontextualisiert; die Zurschaustellung reiner Betroffenheit gilt als das probate Instrument der deutschen Vergangenheitsbewältigung. So wird das nachträgliche Mitleiden mit den Opfern durch die Täterkinder inszeniert, es hat kathartischen Effekt für die Mitleidenden und ist darin höchst egozentrisch. Beispielhaft mag hier das Ritual um Anne Frank gelten (ein Kind, ein unschuldiges), ohne dass sich noch ernsthaft mit der Frage zu quälen wäre, warum das Grauen dem Kinde geschah. So wird aus der deutschen Tat ein banalisiertes und universalisiertes Böses. Und dieses ist – weil entkontextualisiert – auf andere Kontexte nur zu leicht übertragbar.
Diese scharfe Scheidung in empathielose und darum absichtsvoll moralfreie Geschichtsschreibung in der Wissenschaft und in geschichtsloses Moralisieren und vorgebliches Mitleiden im öffentlichen politischen und medialen Raum, ist problematisch schon von Grunde auf. Sowohl das Verschwinden von konkreten Opfern und Tätern, also die Tilgung der Subjekte im Rahmen dessen, was sich als Geschichtswissenschaft ausgibt, als auch der im öffentlichen Gedenken institutionalisierte Kontextverlust, der nur Betroffenheit noch kennt, befördern die deutsche Täter-Opfer-Verdrehung der letzten Jahre, wie sie schließlich auch im Dokudrama »Die Flucht« evident ist.
Ganze siebzig Sekunden leistet sich der Film als »kontextualisierenden« Vorspann in schwarzweiß. Die bekannten Bilder von Hitler, von Bomben auf deutsche Städte, vom Ostwall – sie wirken wie die politisch korrekte Vorübung zum vorgeblichen Tabubruch, über deutsches Leiden zu erzählen. »Das Pendel des von Hitler entfachten Vernichtungskrieges schlägt zurück«, so wird der Zuschauer noch flugs ins Bild gebracht. Das reicht aus, das ist es, was man von Geschichte hier noch zu wissen hat. Offenkundig ist das nachholende Mitleiden der deutschen Täterkinder für die jüdischen Opfer – im Ansatz schon bar des kritischen Bewussteins für die Geschichte – inzwischen auch Vergangenheit. Juden kommen – wie heute in den Inszenierungen vom »Der Untergang« bis »Die Flucht« üblich – praktisch nicht mehr vor; sie sind gänzlich aus dem Bild geraten. Das Opfer-Sein wird zu einer kollektiven Kategorie aufgrund individuellen Erlebens von Schmerz und Verlust umgedeutet, ohne den geschichtlichen Hintergrund noch kritisch ausbreiten zu müssen. Damit vermögen sich die Deutschen nunmehr als Opfer in Szene zu setzen.
In der üblichen Behauptung, das eine Leiden, das deutsche nämlich, nicht mit dem anderen aufrechnen zu wollen, ist die halbe Volte der Neudeutung von Geschichte bereits gelungen: Leiden als Schicksal hier wie dort; und wo von Schicksal die Rede ist, wird nach dem Grund, nach der Bedeutung individuellem Handelns, nach kollektiver Verantwortung und individueller Schuld kaum mehr gefragt. Doch: Wo überall nur noch Opfer sind, da drängt sich die Frage auf, wer die Taten dann überhaupt beging?
Mit dem auffällig penetranten Verweis auf die eigenen Zahlen – so seien über 14 Millionen Deutsche am Ende des Zweiten Weltkrieges von Flucht und Vertreibung betroffen gewesen – desavouiert sich die Behauptung, das Leiden nicht aufrechnen zu wollen, selbst. Ob in Literatur oder filmischem Dokudrama: Schmerz und Verlust der Deutschen werden in Form individueller Tragödien gezeichnet und in den Bildern höchst emotional aufgeladen. Wird den Opfern der Shoa zunehmend die Empathie versagt – man glaubt diesbezüglich in sechzig Jahren genug geleistet zu haben – so wird sie nun den Deutschen zuteil, deren Leiden so eindringlich illustriert wird, dass nur ein Unmensch, so mag es erscheinen, kein Mitgefühl empfinden kann.
Es ist noch einigermaßen nachvollziehbar, da Deutsche bei der Flucht aus dem Osten tatsächlich bittere Not litten, wenn die damals Betroffenen die Erinnerung daran nicht tilgen wollen und wohl auch nicht können. Dies gilt erst recht in jenen seltenen Fällen, da jemand individuell nicht in Haftung für das deutsche Verbrechen genommen werden kann, weil er vielleicht wirklich nicht zu den Nazis hielt, und doch die Konsequenzen mit zu tragen hatte. Doch es ist ein Unterschied ums Ganze, wenn aus dem individuellen Erleben und Erinnern, wenn aus individuellem Schmerz und Verlust eine kollektive Identität des Opfer-Seins konstruiert wird, wenn sich dies erst innerhalb der Familien über die Generationen vermittelt, um dann als nationales Schicksal zum ebenso offiziösen wie falschen Geschichtsbewusstsein zu werden. Aus der ursprünglich festzustellenden Geschichts- und Politikvergessenheit konstituiert sich dann eine neue Geschichte, leiten sich neue politische Ansprüche ab.
So begrüßt nun beispielsweise die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann die Ausstrahlung des ARD-Zweiteilers »Die Flucht« als »wichtige Form der Vergangenheitsbewältigung« und stellt in diesem Zusammenhang klar: Frieden und Versöhnung seien erst möglich, wenn Täter Schuld bekennen und die Schicksale der Opfer gehört werden. [2] Hier ist die Täter-Opfer-Verkehrung vollendet. Was im Familiengespräch bereits vorweg genommen wurde, ist jetzt auch im öffentlichen politischen Raum opportun.
Der Film »Die Flucht« wird, so ist anzunehmen, seine Wirkung erzielen: Wie sehr hier allein auf Emotionen abgezielt wird, und damit neue Opferbilder inszeniert werden, bezeugt Maria Furtwängler, laut BILD »die schöne ›Tatort‹-Kommissarin«, die »als flüchtende Gräfin Lena von Mahlenberg im erschütterndsten Film des Jahres« spielt, im Interview [3]: »Ja, als ich das spielen musste, habe ich sehr geweint.« Die Furtwängler leidet am Set stellvertretend für die einst Geflüchteten, stellvertretend für deren Kinder und Kindeskinder, die sich doch qua Geburt noch als Opfer von Flucht und Vertreibung imaginieren. Für jene Zeit, da laut BILD »Zehntausende deutscher Flüchtlinge unter dem Beschuss russischer Tiefflieger, durch Erfrieren und Ertrinken den Tod gefunden haben«, findet die Schauspielerin die entsprechenden Worte: »unendlich erschütternd«, »beklemmend«, »Augenzeugenberichte ... von toten Babys, die wie Puppen links und rechts des Weges lagen«. Sie spürte am Set ein »körperliches Erleben«: »Diese brutale Kälte. Minus 15 Grad. Beim Atmen klebten die Nasenflügel zusammen. Innerhalb von fünf Minuten waren Füße und Hände taub...« Am Ende, so erhellt sie, »verwischte sich für Augenblicke die Grenze zwischen Fiktion und Realität«. Und genau darum, wenn auch nicht nur »für Augenblicke«, geht es doch recht eigentlich bei der inszenierten Täter-Opfer-Verkehrung.
In einer Pressemitteilung der deutschen Bundesregierung gibt sich Kulturstaatsminister Bernd Neumann zufrieden, »dass die Thematik Flucht und Vertreibung auch vom Fernsehen aufgegriffen und einem breiten Publikum vor Augen geführt wird«, denn: »Auch über 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs ist die Problematik von Flucht und Vertreibung aktuell geblieben.« [4] Was dies zu bedeuten hat, welche aktuelle politische Dimension dieses neudeutsche Geschichtsverständnis besitzt, benennt die Furtwängler, der hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann folgend, ganz konkret: »Putin soll sich entschuldigen!« [5]
Bisher galt noch: »Wir haben uns in Deutschland sehr schwer getan, die Deutschen als Opfer zu zeigen.« Das, soviel scheint sicher, ist nun vorbei. Die ersten, ja die wirklichen Opfer von Flucht und Vertreibung, sie werden darüber absichtsvoll vergessen. Denn nur durch diesen Akt der Verdrängung und Verdrehung wird der (Gedenk-) Raum geschaffen, den sich das deutsche Volk schon lang ersehnt.
[1] http://jungle-world.com/seiten/2007/09/9468.php
[2] http://www.netzeitung.de/medien/567851.html
[3] BILD: »Ich habe sehr geweint...«
[4] Presseerklärung der Bundesregierung
[5] BILD: Putin soll sich entschuldigen
Sonntag, 4. März 2007
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2 Kommentare:
Ein ausgezeichneter Artikel ueber eine sehr beunruhigende Tendenz, die revisionistisch-revanchistische Sichtweite zum Standard machen zu wollen - was vermutlich auch gelingen wird, wenn es nicht schon laengst gelungen ist...
Ein lesenswerter Artikel wobei ich den hier konstruierten kausalen Zusammenhang zwischen der Vertreibung und Ermordung der Juden und der Flucht der Deutschen aus den "Ostgebieten" nicht ganz nachvollziehen kann. Auch dass man die "wirklichen" Opfer von Flucht und Vertreibung (gibt es auch 'unwirkliche'?) "absichtsvoll" vergisst kann ich so nicht sehen. Die Shoa ist nicht der Gegenstand dieses Films, und nicht jede Geschichte kann, schon aus Gründen der Erzählökonomie, das Große und Ganze im Auge behalten.
Viel bedenklicher an "Die Flucht" fand ich die tumbe, bewußt polarisierende Darstellung zwischen 'edlen' Deutschen (Frauen zumeist) und doofen Nazis. Diese Darstellung, wie allein schon die Verwendung des abstrakten Begriffes 'Nazi' (anstatt 'Deutsche'), läuft gezielt darauf hinaus, das, was zwischen 33 und 45 passiert ist, einer kleinen, durchgeknallten Clique anzulasten, während der große Teil der 'unschuldigen' Deutschen Bevölkerung 'verführt' und dadurch selbst zum Opfer wurde. Die späte Absolution des 'einfachen' Mannes, wenn man so will.
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