Mittwoch, 14. Februar 2007

Grosser Unsinn

In der Internationalen Politik (IP), dem Zentralorgan der deutschen Außenpolitikberatung, wird neuerdings eine Lanze für die »Israelkritik« gebrochen. Der Jargon ist dabei der des ordinären Antizionismus. Doch glaubt man wohl den Vorwurf des »ehrbaren Antisemitismus« (Jean Améry) abwehren zu können, überlässt man die Ausfälle gegen Israel doch einem qua jüdischer Herkunft vermeintlich davor Gefeiten.

Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) [1] steht als außenpolitischer Think Tank für den politischen Mainstream Deutschlands; gefördert
von mehr als sechzig Unternehmen und Stiftungen agieren hier als Mitglieder der ehrenwerten Gesellschaft namhafte Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Medien und Industrie: von Hans-Dietrich Genscher über Friedbert Pflüger bis Herta Däubler-Gmelin, vom Günther Nonnenmacher (FAZ) über August Winkler (Humboldt-Universität Berlin) bis Volker Perthes (Stiftung Wissenschaft und Politik). Aufgrund dieses Profils und Personals hat es doch einige Relevanz, wenn mit dem Duktus des Tabubruchs in der Internationalen Politik (IP), dem monatlichen Verlautbarungsorgan dieser Politikberatungsagentur, ein ressentimentgeladener, gegen Israel gerichteter Text veröffentlich wird.

»Warum ich Israel kritisiere« ist der Artikel des 82-jährigen Politikwissenschaftlers Alfred Grosser in der jüngsten Ausgabe der IP betitelt [2]. Versteht man, darin dem Direktor des Jerusalemer Shalem Center, Natan Sharansky, folgend, die Dämonisierung und Delegitimierung Israels sowie die bei der Bewertung des Nahostkonfliktes in Anschlag gebrachten doppelten Standards gegen den jüdischen Staat eben nicht mehr als legitime Kritik, sondern als antisemitisch, so muss dieses Attribut auch auf Grossers Text in der IP angewandt werden.

Dabei ist nichts an seinem Elaborat wirklich neu: In Anlehnung an Martin Walser spricht er von einer »Keule über den Köpfen«. Denn ein Deutscher liefe heute gleich Gefahr, als antisemitisch tituliert zu werden, wenn er nur »auf das schlimme Los der Einwohner von Gaza, von Westjordanien oder von Ostjerusalem hinweist.« Halluziniert wird wie schon beim deutschen Dichterdenker Walser eine ominöse Macht, die qua ›Auschwitzkeule‹ deutschen Schädeln arge Blessuren zuzufügen vermag, und dies nur weil gewagt wird, das Elend in den palästinensischen Gebieten zu benennen. Doch diese Benennung ist ganz richtig, bezieht sie sich doch auf etwas Objektives; allein die unbedingte Zuweisung der Verantwortung an Israel ist das Problem. So schreibt jüngst Einat Wilf, ehemalige außenpolitische Beraterin von Israels Vize-Premier Shimon Peres, dass die Palästinenser selbst an ihrem Elend schuld seien [3] und unterstreicht sehr wohl die elende Lage der Araber in den Palästinensergebieten. Doch erklärt sie auch:

»Es gibt kein äußeres Hindernis, das Araber und Muslime davon abhält, Freiheit, Wohlstand und intellektuellen Fortschritt zu erreichen. Palästinenser, Araber und Muslime haben absolut keinen Grund, anderen für ihren bedauernswerten Zustand Vorwürfe zu machen. Sie haben alle Werkzeuge in Reichweite, die man zum Regieren, für Wirtschaft und Kultur braucht. Dass sie sich dafür entscheiden, sie nicht zu benutzen, haben sie sich selbst zuzuschreiben. Menschen und Nationen, die Ausreden für ihr Verhalten suchen, haben keine Absicht, dieses zu ändern. Sie suchen bloß Wege, es zu rechtfertigen und den Veränderungsdruck abzuwehren. Der israelisch-palästinensische Konflikt ist eine besonders gute Ausrede, da der Westen sie zu akzeptieren scheint.«

Grosser dagegen behauptet, nur »Israelkritiker« würden – und dies sei dann Ausweis besonderer Menschlichkeit – das Leiden anderer anerkennen, und verschweigt dabei absichtsvoll, dass das Leiden der Araber in den palästinensischen Gebieten begründet ist im Leiden an sich selbst, an der eigenen politischen und ideologischen Verfasstheit, am eigenen Regime der terroristischen Banden. Bei Grosser wird jedoch alle Schuld auf die Zionisten projiziert. Und weil seine ›Israelkritik‹ eben so vorgeblich ›menschlich‹ auftritt, will sie – das ist der rhetorische Trick – all jene als besonders unmenschlich brandmarken, die seiner Ranküne gegen Israel nicht zu folgen bereit sind.

Dies nun verweist auf einen besonderen Schwerpunkt in Grossers politischer Agenda, nämlich auf die Behauptung, gerade Juden müssten besonders human sein, haben sie doch selbst Inhumanität erlitten: »Ich bin als Judenkind in der Frankfurter Schule verachtet und sogar geschlagen worden. Ich kann nicht verstehen, dass Juden andere verachten.« Das ist in der Allgemeinheit der Schlussfolgerung so simpel wie falsch: Niemand wird es beispielsweise einem Judenkind Anfang der 1930er Jahre verdenken können, verachtete es die antisemitischen Schläger an seiner Schule. In Grossers Unlogik sind schon die doppelten Standards angelegt, rekurriert er dabei doch auf den unsäglichen Topos von »Auschwitz als Besserungsanstalt«, erwartet er doch von Juden anderes und mehr als von anderen. Weil aber laut Grosser die zionistischen Juden eben nicht diesem Humanismus folgen würden, schlägt seine Forderung nach einer besonderen jüdischen Moral in ein antiisraelisches Ressentiment um: Israel als jüdischer Staat habe kein »echtes Mitgefühl« für das Leiden anderer, darum liege auch allein bei Israel die Verantwortung für die Lösung des Nahostkonflikts; Grosser folgert: »Die Lösung kann nur kommen, wenn die israelischen Behörden endlich echtes Mitgefühl für das Leiden in Gaza und in den ›Gebieten‹ zeigen.« Da Israel aber angeblich eine solche Lösung verweigert, wird der jüdische Staat als hart und unmenschlich dämonisiert und stigmatisiert; Grosser begründet dies dann in seiner Rede von Israels »Kriegsverbrechen«, von »unbarmherziger Politik«, der »Mauer«, den illegalen und illegitimen »gezielten Tötungen« von Terroristen.

Was von den Israelis abverlangt wird, nämlich das Leiden der anderen Seite anzuerkennen, soll den Arabern nicht zugemutet werden, denn so »kann man von keinem jungen Palästinenser verlangen, die Opfer der schrecklichen Attentate zu beklagen, wenn das Leiden der Seinen ignoriert wird.« Und wieder ist Israel verantwortlich; nicht einmal das Mindeste, dass nämlich auch Araber die mörderischen Anschläge gegen Israelis verurteilen, wird eingefordert. Damit denunziert sich Grossers vorgeblich ungeteilter Humanismus selbst als unmenschlich, als rein funktional gegen Israel gerichtet. Wenn er »gegen die Selbstbezogenheit, gegen die Moral der nur der eigenen Gemeinschaft geltenden Solidarität« wettert, so meint er ausdrücklich nicht die Araber, sondern die Juden.

Grosser macht sich die Positionen der Araber ganz zu eigen, wenn er in ihrem Namen fragt: »Warum sollen wir harte Konsequenzen für Auschwitz tragen?« Das ist, auch bei zurückhaltender Bewertung, nicht weit von der Rhetorik von Arafat bis Ahmadinedjad entfernt, wird doch mit der Frage »warum wir?« schon das Falsche vorausgesetzt, dass nämlich die Araber Leidtragende von Auschwitz seien. Implizit wird damit die Gründung des Staates Israel als die angeblich falsche Konsequenz aus der Shoa in Frage gestellt, wird dieser Staat als jüdischer Staat delegitimiert. Grossers Parteinahme für die arabische Frage: »Warum dürfen unsere Flüchtlinge und Vertriebene [sic!] nicht zurückkehren, wenn doch die Juden sich auf den Anspruch berufen, nach zwei Jahrtausenden zurückzukehren?« ist zugleich eine Parteinahme für die arabische Lösung, die ein Ende des jüdischen Staates bedeuten würde, zumal Grosser die Politik, »Israel für alle Juden der Welt offen zu halten« grundsätzlich in Frage stellt.

Der ultimative Vorwurf der Antizionisten aber ist, dass Israel sich ähnlich dem Naziregime verhalte. Die Behauptung einer solchen Analogie wird deshalb selbst von den zurückhaltendsten Politikwissenschaftlern als antisemitisch bezeichnet; und auch hier lässt Grosser nichts aus. Er erinnert: »...in Nürnberg galt als Kriegsverbrechen ›mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten oder Dörfern [sic!] oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung‹.« Und genau solche Verbrechen habe die israelische Armee nun in Gaza und im Libanon begangen. Der Hinweis auf Den Haag reicht Grosser längst nicht aus, es muss die Parallelenziehung zu Nürnberg und damit zu den Verbrechen der Nazis sein, um Israel final zu dämonisieren.

Und ein solcher Artikel, der kein Klischee des modernen, als »Israelkritik« sich gebärdenden Antisemitismus auslässt, erscheint in Deutschlands wichtigster außenpolitischer Zeitschrift. Er wäre, abgedruckt in der Jungen Freiheit oder in den Organen des linken Antiimperialismus, gemeinhin als das bezeichnet worden, was er ist: ein israelfeindliches Machwerk. Doch derartige Positionen sind längst auch im politischen Mainstream verankert, und dort gibt es per definitionem keine Antisemiten, nur »Kritiker« und andere »Freunde« Israels. Das Spiel ist bekannt: Man überlässt es zunächst einem leidlich prominenten antizionistischen Juden, das vermeintliche Tabu der »Israelkritik« zu brechen, so als ob ein Alfred Grosser qua Herkunft nicht in der Lage wäre Unsinn – auch antisemitischen Unsinn – zu schreiben. Dann wähnt man sich mittels eines solchen publizistischen Stahlhelms gegen die »Keule über den Köpfen« abgesichert und glaubt, sich in der eigenen »Israelkrtitik« stets auf den jüdischen Kronzeugen berufen zu können.

Grosser ahnt wenigstens etwas von seiner Rolle: »Es ist schon ein Zeichen, dass man sich bei einem solchen Thema ausweisen muss. Ich lege aber sowieso Wert darauf, die biographischen Grundlagen meiner harten Beurteilung der Politik Israels zu zeigen. Ich bin am 1. Februar 1925 in Frankfurt geboren. Beide Eltern und die vier Großeltern waren Juden...« Grosser also nimmt die angebliche Notwendigkeit, sich bei der »harten Beurteilung der Politik Israels« als jüdisch ausweisen zu müssen, noch als Beleg für das vermeintliche Tabu der »Israelkritik«. Dabei ist es doch allenfalls Ausweis der (längst schwindenden) Verklemmtheit der deutschen Antizionisten, die sich des jüdischen Vorreiters nur bedienen, bis die Diskursgrenzen hinreichend ausgeweitet sind, bis es qua Kosherstempel gänzlich legitim geworden ist, auch im politischen Mainstream die wildeste Ranküne gegen Israel zu pflegen.

Die Sehnsucht nach diesem Kosherstempel scheint blind zu machen. So nimmt man, um den Israelhass aus berufener weil jüdischer Feder ins Blatt zu bekommen, in der IP einige Wirrsal in Kauf: Grosser nämlich schreibt: »Im August 1944 hörte ich BBC in Marseille, wo ich mit falschem Ausweis lebte und erfuhr, dass die ehemaligen Insassen des KZ Theresienstadt nach Auschwitz transportiert worden waren – unter ihnen wahrscheinlich die Schwester meines Vaters und ihr Gatte. Am nächsten Morgen war ich sicher, dass es keine Kollektivschuld gibt.« Es bleibt ganz unvermittelt, wie dem jungen Grosser ausgerechnet in solchen Momenten solche Einsichten kamen; die Botschaft aber, dass es keine Kollektivschuld gäbe, »seien die Henker noch so zahlreich und die Verbrechen noch so maßlos«, sie wird gern angenommen. Auch mit dem Satzbau nimmt man es nicht so genau, Hauptsache ist, die Botschaft stimmt: »Gerade weil so viele Deutsche damals nicht feige waren, darf ein heutiger Deutscher die Gefahr laufen, als Antisemit zu gelten...«

Das Problem ist nicht, dass ein älterer Herr groben Unfug redet oder schreibt, das kommt immer einmal vor. Es wirft aber ein Schlaglicht auf den Zustand des politischen Mainstreams in Deutschland, wenn jemand wie Alfred Grosser ohne größere Interventionen ordinär antizionistische Positionen bei Bundestagsausschüssen gegen Antisemitismus (November 2004) oder in arrivierten Publikationen wie der IP (Februar 2007) vorbringen kann. Bei einem einigermaßen aufgeklärten Begriff von Kritik kann hier nämlich nicht von Israelkritik, allenfalls von Israelhass die Rede sein; bei einem halbwegs validen Begriff des modernen Antisemitismus wird auch einem Grosser zum Vorwurf gemacht werden dürfen, dass er Israel dämonisiert, delegitimiert und mit doppelten Standard misst. Dergleichen »Israelkritik«, die leicht als antisemitisch zu dechiffrieren ist, ist längst schon eine legitime Position der öffentlichen Debatte; Grossers Text ist nur der immer unnötigere Versuch, sich im politischen Mainstream durch jüdische Kronzeugen abzusichern.

Wenn jemand dagegen anschreibt, muss er sich einiges gefallen lassen: »Henryk M. Broder brandmarkt ständig alle und jeden, die sich um das Leiden der Anderen sorgen. Als Jude fühle ich mich verpflichtet, dieses Leid nicht zu ignorieren« [4], so lässt man Alfred Grosser jüngst in der Berliner tageszeitung gegen die Verleihung des Börne-Preises an Broder zu Felde ziehen. »Broder dagegen bekämpft, im Einklang mit fanatisch pro-israelischen Internetseiten wie ›Honestly Concerned‹, so aggressiv wie möglich alle, die nicht so denken und handeln wie er.« So also wütet Grosser, spricht gar von einer »Beleidigung des Humanismus«.

Was damit in deutschen Publikationen fälschlich als zunächst innerjüdischer Streit dargestellt wird, dient dem ordinären Deutschen nur als Steilvorlage. Der notorische Ludwig Watzal [5], Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung und zwischen neurechtem und linksextremistischem Milieu changierend, jubelt deshalb über den Mut – gegenüber wem eigentlich? – in der tageszeitung: »Gott sei Dank hat es die taz gewagt, nicht in den Chor der Henryk-M.-Broder-Beweihräucherer einzustimmen, der diesem ›humoristischen Hassprediger‹ (Daniel Bax) devot zu Füßen liegt.« [6]

Damit hat der Mohr, der hier ein Jude ist, sein Schuldigkeit getan und Deutschland ist wieder ganz bei sich selbst angekommen.


[1] http://www.dgap.org/
[2] Alfred Grosser: Warum ich Israel kritisiere
[3] Einat Wilf: Palästinenser sind selbst schuld an ihrem Elened
[4] http://www.taz.de/pt/2007/02/03/a0193.1/text
[5] http://lizaswelt.blogspot.com/2007/02/schmockierende-urteile.html
[6] http://www.taz.de/pt/2007/02/07/a0207.1/textdruck


Sonntag, 11. Februar 2007

Das Gedenken als Farce

Zweiundsechzigster Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz: Im Berliner Dom findet ein »Benefizkonzert zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« statt. Diese Veranstaltung ist nichts Besonderes im Deutschland der aufgearbeiteten Vergangenheit, aber besonders symptomatisch für ein entkontextualisiertes Ritual ohne ernstzunehmende Rückbindung an die Geschichte und ohne kritische Reflexion auf das Heute.

Dabei meinen es die Veranstalter doch nur gut: Der Erlös des Konzertes unter der Schirmherrschaft von Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender der Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, soll der psycho-sozialen Betreuung von Holocaust-Überlebenden durch die Organisationen Amcha und Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zugute kommen. Der Bischof redet darum von »Versöhnung zwischen Deutschen und Juden in Israel«, und die Präsidentin lobt einen solchen »Sinn der deutsch-israelischen Beziehungen, dem wirklich ein menschliches Interesse und Anteilnahme am Schicksal der Überlebenden der Naziherrschaft zugrunde liegt«. Diese allseits bekannten Sentenzen stehen deshalb außerhalb jeder Kritik, weil die damit unterstützte Arbeit von Amcha und Aktion Sühnezeichen in Israel tatsächlich außergewöhnlich konkret ist und über die bekannte Rhetorik von der »Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilisierung für die Gegenwart der Geschichte« weit hinausgeht.

Im ersten Teil des Konzertabends erklingt Felix Mendelssohn-Bartholdys Liederspiel »Heimkehr aus der Fremde«. Getäuscht sieht sich, wer hinter dem Titel dieses Stückes irgendeinen Hinweis auf den Kontext des Konzertes vermutet; es wäre auch allenfalls eine falsche Allegorie hineinzuinterpretieren gewesen: Die Wenigsten kehrten aus den Vernichtungslagern heim, und diejenigen, die überlebten, sie waren nicht in der Fremde gewesen: sie waren in der Hölle. Doch ehe ein solcher Trugschluss unterlaufen kann, gibt schon das Programmheft den nur gelegentlich mit den Werken Mendelssohn-Bartholdys Beschäftigten Aufschluss über den tatsächlichen Gehalt dieses Stückes.

»Der verloren geglaubte Sohn eines Dorfschulzen kehrt – zunächst unerkannt – aus dem Krieg in seinen Heimatort zurück. Dort muss er sich gegen einen zwielichtigen Krämer behaupten, der mit allerhand Vortäuschungen gern die Stelle des Sohns bei den Eltern und der Braut einnehmen würde. Der eben 20-jährige Mendelssohn hat in der ›Heimkehr aus der Fremde‹ nicht nur die lyrischen, sondern auch und gerade die witzigen Situationen besonders anschaulich gestaltet.«

Mendelssohn-Bartholdys »Heimkehr aus der Fremde« gilt nicht gerade als Sternstunde der Musikgeschichte; das Liedspiel ist aus guten Gründen sein letztes abgeschlossenes Bühnenwerk. Ein Anachronismus schon zur Zeit seiner Entstehung ist diese Komposition zwischen biedermeierlicher Beschaulichkeit und kaum überraschendem, vorgeblich amüsantem Verwirr- und Intrigenspiel angesiedelt. Es ist ein bestenfalls harmloses Stück; es sei denn, es wird zum falschen Anlass aufgeführt. Der 27. Januar ist ein solcher.

»Ja, wer hütet die wilde Jugend: alle Mütter seufzen insgeheim«, so fängt die Geschichte an, in der eine Mutter sich Sorgen um ihren Sohn Hermann macht, der seit sechs Jahren schon im Krieg verschwunden ist, und man erfährt: »Schon als Kind hat der immer gerne Soldat gespielt: ›Piff! Paff! Tod!‹« Verführt zum »Abenteuer, Soldat zu spielen« hat ihn ein böser Onkel. Eine solche Geschichte nun wird ausgerechnet am Tag der Befreiung von Auschwitz erzählt: die Geschichte eines verschollenen, zum Abenteuer nur verführten deutschen Soldaten. Wird die »Heimkehr aus der Fremde« durch den Anlass des Konzertes nachträglich kontextualisiert, so wird das Singspiel zu einer Ungeheuerlichkeit, die doch kompatibel ist zum deutschen Vergangenheitsdiskurs – von der Verführung der Jugend zum Krieg bis zum Leiden der Mütter an der Heimatfront.

Der verschollene Sohn des Dorfschulzen nun taucht wieder auf, genau zum Fest des 50-jährigen Amtsjubiläums des Vaters, und das gleich zwei Mal: zunächst als der Hochstapler, der nur vorgibt, der Sohn zu sein, und dann als das wirkliche Kind der erwartungsfrohen Eltern. Die Figur des Hochstaplers, und dies ist insbesondere im Kontext des Benefizkonzerts nicht witzig sondern allenfalls irrwitzig, entspricht klassischen antisemitischen Stereotypen: Der Kauz, der – welch dürrer Wortwitz – tatsächlich Kauz heißt, bekundet als unsteter Heimatloser: »Ich bin ein vielgereister Mann, der aller Länder Tänze kann«, nur um einem intriganten Allmächtigen gleich die Dorfbewohner zu foppen: »Drum preist den Himmel für den Mann, der euch allein dressieren kann.« Und während der wahre Hermann noch »seiner Heimat traulich Licht« besingt, und die Mutter an den Sohn als »treu wie Gold und Stahl« erinnert, will der Kauz sich in die autochthone Gesellschaft als Parasit, als falscher Sohn, hineinlügen. Doch die Lüge wird erkannt, der falsche Hermann entlarvt und der wahre Sohn endlich erkannt. Die guten Christenmenschen üben Nachsicht mit dem Hochstapler, und noch in der vorgeblichen Einsicht gibt sich der Kauz, der eigentlich ein Krämer, ein fahrender Händler, ist, falsch und auf eigenen Vorteil bedacht: »Nein, mit der Wahrheit kommt man am weit´sten. Kauft! Kauft lauter echte Ware von Wert.« Kein Schelm, wer Antisemitisches dabei denkt.

Nach derlei Vergnüglichem folgte im zweiten Teil des Konzertabends Erbauliches: mit Franz Schuberts Es-Dur-Messe erklingt die Vertonung der feierlichen Messe (»missa solemnis«) der katholischen Kirche.

Zweiundsechzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und damit nach dem Anfang vom Ende der Ermordung der europäischen Juden ertönt, in Erinnerung an dieses historische Datum, im Berliner Dom die Kyrie-Litanei: »Kyrie eleison! Herr, erbarme Dich unser! Christie eleison! Christus, erbarme Dich unser! Kyrie eleison! Herr, erbarme Dich unser!« Gleich ob diese dreifache Anrufung allein Christus oder aber der Trinität von Gottvater, Jesussohn und Heiligem Geist gilt, sie wirft die Frage auf, wer hier Erbarmen erfleht. Die gepeinigten und gemordeten Juden haben sich nicht dem Christengott und auch nicht dessen Sohn auf Erden Erbarmen erflehend zugewandt. Die zumeist christlichen Täter in den Vernichtungslagern aber haben selbst keinerlei Erbarmen mit ihren zumeist jüdischen Opfern gekannt.

An diesem Tag nun wird ein »Gloria« inszeniert, eine, wie das Programmheft ausweist, »anrührende« Danksagung – wofür nur an einem solchen Tag? – und eine Lobpreisung des ausdrücklich christlichen Gottes: »Denn du allein bist heilig, du allein bist der Herr, du allein bis der Höchste«. Tu solus – du allein. Was, wie Bischof Wolfgang Huber in einem Grußwort zum Benefizkonzert es ausdrückt, zur »Versöhnung zwischen Deutschen und Juden« beitragen soll, kann bei Wahrnehmung von Text und Kontext gerade nicht als Zeichen der Versöhnung, sondern als Zeichen der Verhöhnung gegenüber Juden, gläubigen allzumal, verstanden werden.

Schuberts Es-Dur-Messe ist die letzte seiner sechs Messen, und wie Nikolaus Harnoncourt einmal meinte, »kein Akt frommer Andacht, sondern Schuberts leidenschaftliches Bemühen, den Tod zu bewältigen.« Der Tod, so tröstet der Christenmensch sich im »Credo« der Messe, führe zu ewigem Leben, denn: »Ich bekenne die eine Taufe zur Vergebung der Sünden der Toten.« Als das Morden der Deutschen endlich ein Ende hatte, waren zwei Drittel der Juden Europas tot. Für sie singt man im Berliner Dom nun ausgerechnet vom christlichen Bekenntnis, von der Taufe und der Vergebung der Sünden.

Für sie erklingt hier auch die Passionsgeschichte Christi; sattsam bekannt für die antisemitische Inanspruchnahme im Bild des jüdischen Gottesmörders, das historisch am Beginn judenfeindlicher Darstellungen und Zuschreibungen überhaupt steht. Die Schuld »der Juden« am Tode Jesu, wie sie seit Paulus behauptet wird, motivierte Judenverfolgung und Pogrome über Jahrhunderte. Diese Vorgeschichte von Auschwitz kann in einer 1828 komponierten Messe wohl kaum reflektiert sein; aber die Aufführung im Januar 2007, im Gedenken an die Opfer von Auschwitz, glaubt ohne jeden Hinweis auf diesen Konnex auszukommen. Diese Unterlassung aber muss verstören, denn hier ist jedes historische und politische Bewusstsein, mithin jede reflektierte Moral absent.

Im nach der Passionsgeschichte ertönenden euphorischen »Hosianna in der Höhe!« des »Sanctus« kulminiert die Messe und klingt doch nur noch wie Hohn, bis abschließend im »Agnus dei« Jesus als das »Lamm Gottes« besungen wird, das die Sünde der Welt trage: »Dona nobis pacem! Gib uns deinen Frieden!«.

Die Schubertsche Messe muss, auch wenn sie sich konventionell an den lateinischen Text hält und heutzutage auf die mangelnde Kenntnis der alten Sprache bauen darf, am Tag des Gedenkens an den Holocaust, gespielt als Benefiz für Holocaust-Überlebende in Israel, gespielt auch vor zahlreich anwesenden Juden, im Mindesten als tönende Taktlosigkeit interpretiert werden.

So wird dieses Konzert der Gutwilligen und Gutmeinenden, wird derlei geschichtsloses Gedenken zur Farce: Erst die vorgeblich lustige, mit antisemitischem Personal aufwartende deutsche Soldaten-Geschichte von Mendelssohn, dem protestantisch Getauften, der aber den Un- und Halbwissenden immer noch als jüdischer Komponist durchgeht und als eben jener zum christlich-jüdischen Gesellschafts-Kolorit solcher Veranstaltungen taugt. Dann eine lateinische Messe mit christlichem Bekenntnis und rhapsodischer Passionsgeschichte. Dies alles: nur ein faux pas?

Nein, es geht nicht nur, um den Jargon des christlich-jüdischen Dialogs in Anschlag zu bringen, um mangelnde »Sensibilität« oder ungenügende »interkulturelle Kompetenz«. Zwar kann den Veranstaltern nicht Böswilligkeit unterstellt werden; eines aber ist gewiss: Das Gedenken ist wenigstens geschichtslos geworden, will es von der Vorgeschichte und Geschichte von Auschwitz, will es von deutschem Ungeist, von deutschem Verbrechen doch gar nichts mehr wissen; will es sich von der Vergangenheit nicht die interkulturelle Idylle, nicht den Wohlklang des Rituals stören lassen. So wird nicht einmal mehr geahnt, was an Mendelssohn-Bartholdys Liederspiel und was an einer christlichen Messe zu diesem Anlass überhaupt problematisch sein könnte. Und wer es dennoch ahnt, der schweigt und lauscht der Harmonie, die zu stören Querulanten vorbehalten bleibt.

Die Auswahl ausschließlicher romantischer Musik zu diesem Konzert, so dass die erklingende Ästhetik dem heutigen Zuhörer keine Zumutung sein will und kann, sondern allein der Ablenkung und Entspannung mit angelegentlich »erhabenem Gefühl« dient, wirft ein weiteres Schlaglicht auf den Gehalt der Veranstaltung: Nicht wirklich um Erinnerung geht es, die, wird sie nämlich ernst genommen, mitnichten wohlklingend, beschaulich oder gar erhebend sein kann. Und es geht auch nicht um Empathie für die Opfer; das Gedenken der Deutschen bleibt auf sich selbst fixiert, ist primär eine Übung für das eigene Gewissen, das schon lang kein schlechtes mehr ist, und das sich mittels solcher Veranstaltungen immer nur selbst des Guten vergewissern will. Nicht Arnold Schönbergs »A Survivor from Warsaw« oder eine ähnliche, dem Zuhörer immer als notwendige Zumutung vorkommende Musik erklingt. Diese würde strapazieren, in Frage stellen, quälen. Das aber wäre den Gutwilligen und Gutmeinenden dann doch des Guten zuviel.

Schon als Altkanzler Schröder ein Holocaust-Mahnmal als »Ort, an den man gerne geht« forderte, gab er die Stoßrichtung des neuzeitlichen Gedenkens vor: Man soll sich als Deutscher mit Auschwitz wieder recht wohl fühlen dürfen.