Sonntag, 11. Februar 2007

Das Gedenken als Farce

Zweiundsechzigster Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz: Im Berliner Dom findet ein »Benefizkonzert zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus« statt. Diese Veranstaltung ist nichts Besonderes im Deutschland der aufgearbeiteten Vergangenheit, aber besonders symptomatisch für ein entkontextualisiertes Ritual ohne ernstzunehmende Rückbindung an die Geschichte und ohne kritische Reflexion auf das Heute.

Dabei meinen es die Veranstalter doch nur gut: Der Erlös des Konzertes unter der Schirmherrschaft von Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, und Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender der Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, soll der psycho-sozialen Betreuung von Holocaust-Überlebenden durch die Organisationen Amcha und Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zugute kommen. Der Bischof redet darum von »Versöhnung zwischen Deutschen und Juden in Israel«, und die Präsidentin lobt einen solchen »Sinn der deutsch-israelischen Beziehungen, dem wirklich ein menschliches Interesse und Anteilnahme am Schicksal der Überlebenden der Naziherrschaft zugrunde liegt«. Diese allseits bekannten Sentenzen stehen deshalb außerhalb jeder Kritik, weil die damit unterstützte Arbeit von Amcha und Aktion Sühnezeichen in Israel tatsächlich außergewöhnlich konkret ist und über die bekannte Rhetorik von der »Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilisierung für die Gegenwart der Geschichte« weit hinausgeht.

Im ersten Teil des Konzertabends erklingt Felix Mendelssohn-Bartholdys Liederspiel »Heimkehr aus der Fremde«. Getäuscht sieht sich, wer hinter dem Titel dieses Stückes irgendeinen Hinweis auf den Kontext des Konzertes vermutet; es wäre auch allenfalls eine falsche Allegorie hineinzuinterpretieren gewesen: Die Wenigsten kehrten aus den Vernichtungslagern heim, und diejenigen, die überlebten, sie waren nicht in der Fremde gewesen: sie waren in der Hölle. Doch ehe ein solcher Trugschluss unterlaufen kann, gibt schon das Programmheft den nur gelegentlich mit den Werken Mendelssohn-Bartholdys Beschäftigten Aufschluss über den tatsächlichen Gehalt dieses Stückes.

»Der verloren geglaubte Sohn eines Dorfschulzen kehrt – zunächst unerkannt – aus dem Krieg in seinen Heimatort zurück. Dort muss er sich gegen einen zwielichtigen Krämer behaupten, der mit allerhand Vortäuschungen gern die Stelle des Sohns bei den Eltern und der Braut einnehmen würde. Der eben 20-jährige Mendelssohn hat in der ›Heimkehr aus der Fremde‹ nicht nur die lyrischen, sondern auch und gerade die witzigen Situationen besonders anschaulich gestaltet.«

Mendelssohn-Bartholdys »Heimkehr aus der Fremde« gilt nicht gerade als Sternstunde der Musikgeschichte; das Liedspiel ist aus guten Gründen sein letztes abgeschlossenes Bühnenwerk. Ein Anachronismus schon zur Zeit seiner Entstehung ist diese Komposition zwischen biedermeierlicher Beschaulichkeit und kaum überraschendem, vorgeblich amüsantem Verwirr- und Intrigenspiel angesiedelt. Es ist ein bestenfalls harmloses Stück; es sei denn, es wird zum falschen Anlass aufgeführt. Der 27. Januar ist ein solcher.

»Ja, wer hütet die wilde Jugend: alle Mütter seufzen insgeheim«, so fängt die Geschichte an, in der eine Mutter sich Sorgen um ihren Sohn Hermann macht, der seit sechs Jahren schon im Krieg verschwunden ist, und man erfährt: »Schon als Kind hat der immer gerne Soldat gespielt: ›Piff! Paff! Tod!‹« Verführt zum »Abenteuer, Soldat zu spielen« hat ihn ein böser Onkel. Eine solche Geschichte nun wird ausgerechnet am Tag der Befreiung von Auschwitz erzählt: die Geschichte eines verschollenen, zum Abenteuer nur verführten deutschen Soldaten. Wird die »Heimkehr aus der Fremde« durch den Anlass des Konzertes nachträglich kontextualisiert, so wird das Singspiel zu einer Ungeheuerlichkeit, die doch kompatibel ist zum deutschen Vergangenheitsdiskurs – von der Verführung der Jugend zum Krieg bis zum Leiden der Mütter an der Heimatfront.

Der verschollene Sohn des Dorfschulzen nun taucht wieder auf, genau zum Fest des 50-jährigen Amtsjubiläums des Vaters, und das gleich zwei Mal: zunächst als der Hochstapler, der nur vorgibt, der Sohn zu sein, und dann als das wirkliche Kind der erwartungsfrohen Eltern. Die Figur des Hochstaplers, und dies ist insbesondere im Kontext des Benefizkonzerts nicht witzig sondern allenfalls irrwitzig, entspricht klassischen antisemitischen Stereotypen: Der Kauz, der – welch dürrer Wortwitz – tatsächlich Kauz heißt, bekundet als unsteter Heimatloser: »Ich bin ein vielgereister Mann, der aller Länder Tänze kann«, nur um einem intriganten Allmächtigen gleich die Dorfbewohner zu foppen: »Drum preist den Himmel für den Mann, der euch allein dressieren kann.« Und während der wahre Hermann noch »seiner Heimat traulich Licht« besingt, und die Mutter an den Sohn als »treu wie Gold und Stahl« erinnert, will der Kauz sich in die autochthone Gesellschaft als Parasit, als falscher Sohn, hineinlügen. Doch die Lüge wird erkannt, der falsche Hermann entlarvt und der wahre Sohn endlich erkannt. Die guten Christenmenschen üben Nachsicht mit dem Hochstapler, und noch in der vorgeblichen Einsicht gibt sich der Kauz, der eigentlich ein Krämer, ein fahrender Händler, ist, falsch und auf eigenen Vorteil bedacht: »Nein, mit der Wahrheit kommt man am weit´sten. Kauft! Kauft lauter echte Ware von Wert.« Kein Schelm, wer Antisemitisches dabei denkt.

Nach derlei Vergnüglichem folgte im zweiten Teil des Konzertabends Erbauliches: mit Franz Schuberts Es-Dur-Messe erklingt die Vertonung der feierlichen Messe (»missa solemnis«) der katholischen Kirche.

Zweiundsechzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und damit nach dem Anfang vom Ende der Ermordung der europäischen Juden ertönt, in Erinnerung an dieses historische Datum, im Berliner Dom die Kyrie-Litanei: »Kyrie eleison! Herr, erbarme Dich unser! Christie eleison! Christus, erbarme Dich unser! Kyrie eleison! Herr, erbarme Dich unser!« Gleich ob diese dreifache Anrufung allein Christus oder aber der Trinität von Gottvater, Jesussohn und Heiligem Geist gilt, sie wirft die Frage auf, wer hier Erbarmen erfleht. Die gepeinigten und gemordeten Juden haben sich nicht dem Christengott und auch nicht dessen Sohn auf Erden Erbarmen erflehend zugewandt. Die zumeist christlichen Täter in den Vernichtungslagern aber haben selbst keinerlei Erbarmen mit ihren zumeist jüdischen Opfern gekannt.

An diesem Tag nun wird ein »Gloria« inszeniert, eine, wie das Programmheft ausweist, »anrührende« Danksagung – wofür nur an einem solchen Tag? – und eine Lobpreisung des ausdrücklich christlichen Gottes: »Denn du allein bist heilig, du allein bist der Herr, du allein bis der Höchste«. Tu solus – du allein. Was, wie Bischof Wolfgang Huber in einem Grußwort zum Benefizkonzert es ausdrückt, zur »Versöhnung zwischen Deutschen und Juden« beitragen soll, kann bei Wahrnehmung von Text und Kontext gerade nicht als Zeichen der Versöhnung, sondern als Zeichen der Verhöhnung gegenüber Juden, gläubigen allzumal, verstanden werden.

Schuberts Es-Dur-Messe ist die letzte seiner sechs Messen, und wie Nikolaus Harnoncourt einmal meinte, »kein Akt frommer Andacht, sondern Schuberts leidenschaftliches Bemühen, den Tod zu bewältigen.« Der Tod, so tröstet der Christenmensch sich im »Credo« der Messe, führe zu ewigem Leben, denn: »Ich bekenne die eine Taufe zur Vergebung der Sünden der Toten.« Als das Morden der Deutschen endlich ein Ende hatte, waren zwei Drittel der Juden Europas tot. Für sie singt man im Berliner Dom nun ausgerechnet vom christlichen Bekenntnis, von der Taufe und der Vergebung der Sünden.

Für sie erklingt hier auch die Passionsgeschichte Christi; sattsam bekannt für die antisemitische Inanspruchnahme im Bild des jüdischen Gottesmörders, das historisch am Beginn judenfeindlicher Darstellungen und Zuschreibungen überhaupt steht. Die Schuld »der Juden« am Tode Jesu, wie sie seit Paulus behauptet wird, motivierte Judenverfolgung und Pogrome über Jahrhunderte. Diese Vorgeschichte von Auschwitz kann in einer 1828 komponierten Messe wohl kaum reflektiert sein; aber die Aufführung im Januar 2007, im Gedenken an die Opfer von Auschwitz, glaubt ohne jeden Hinweis auf diesen Konnex auszukommen. Diese Unterlassung aber muss verstören, denn hier ist jedes historische und politische Bewusstsein, mithin jede reflektierte Moral absent.

Im nach der Passionsgeschichte ertönenden euphorischen »Hosianna in der Höhe!« des »Sanctus« kulminiert die Messe und klingt doch nur noch wie Hohn, bis abschließend im »Agnus dei« Jesus als das »Lamm Gottes« besungen wird, das die Sünde der Welt trage: »Dona nobis pacem! Gib uns deinen Frieden!«.

Die Schubertsche Messe muss, auch wenn sie sich konventionell an den lateinischen Text hält und heutzutage auf die mangelnde Kenntnis der alten Sprache bauen darf, am Tag des Gedenkens an den Holocaust, gespielt als Benefiz für Holocaust-Überlebende in Israel, gespielt auch vor zahlreich anwesenden Juden, im Mindesten als tönende Taktlosigkeit interpretiert werden.

So wird dieses Konzert der Gutwilligen und Gutmeinenden, wird derlei geschichtsloses Gedenken zur Farce: Erst die vorgeblich lustige, mit antisemitischem Personal aufwartende deutsche Soldaten-Geschichte von Mendelssohn, dem protestantisch Getauften, der aber den Un- und Halbwissenden immer noch als jüdischer Komponist durchgeht und als eben jener zum christlich-jüdischen Gesellschafts-Kolorit solcher Veranstaltungen taugt. Dann eine lateinische Messe mit christlichem Bekenntnis und rhapsodischer Passionsgeschichte. Dies alles: nur ein faux pas?

Nein, es geht nicht nur, um den Jargon des christlich-jüdischen Dialogs in Anschlag zu bringen, um mangelnde »Sensibilität« oder ungenügende »interkulturelle Kompetenz«. Zwar kann den Veranstaltern nicht Böswilligkeit unterstellt werden; eines aber ist gewiss: Das Gedenken ist wenigstens geschichtslos geworden, will es von der Vorgeschichte und Geschichte von Auschwitz, will es von deutschem Ungeist, von deutschem Verbrechen doch gar nichts mehr wissen; will es sich von der Vergangenheit nicht die interkulturelle Idylle, nicht den Wohlklang des Rituals stören lassen. So wird nicht einmal mehr geahnt, was an Mendelssohn-Bartholdys Liederspiel und was an einer christlichen Messe zu diesem Anlass überhaupt problematisch sein könnte. Und wer es dennoch ahnt, der schweigt und lauscht der Harmonie, die zu stören Querulanten vorbehalten bleibt.

Die Auswahl ausschließlicher romantischer Musik zu diesem Konzert, so dass die erklingende Ästhetik dem heutigen Zuhörer keine Zumutung sein will und kann, sondern allein der Ablenkung und Entspannung mit angelegentlich »erhabenem Gefühl« dient, wirft ein weiteres Schlaglicht auf den Gehalt der Veranstaltung: Nicht wirklich um Erinnerung geht es, die, wird sie nämlich ernst genommen, mitnichten wohlklingend, beschaulich oder gar erhebend sein kann. Und es geht auch nicht um Empathie für die Opfer; das Gedenken der Deutschen bleibt auf sich selbst fixiert, ist primär eine Übung für das eigene Gewissen, das schon lang kein schlechtes mehr ist, und das sich mittels solcher Veranstaltungen immer nur selbst des Guten vergewissern will. Nicht Arnold Schönbergs »A Survivor from Warsaw« oder eine ähnliche, dem Zuhörer immer als notwendige Zumutung vorkommende Musik erklingt. Diese würde strapazieren, in Frage stellen, quälen. Das aber wäre den Gutwilligen und Gutmeinenden dann doch des Guten zuviel.

Schon als Altkanzler Schröder ein Holocaust-Mahnmal als »Ort, an den man gerne geht« forderte, gab er die Stoßrichtung des neuzeitlichen Gedenkens vor: Man soll sich als Deutscher mit Auschwitz wieder recht wohl fühlen dürfen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Interessant wäre es gewesen, wenn der Autor gesagt hätte, was er denn gerne für Musik gehört hätte, wenn der Befreiung von Auaschwitz gedacht werden soll.
Nur in einem Nebensatz wird auf Schönberg verwiesen. Als Schönberg-Enthusiast fällt mir dabei nur auf, dass der Autor diesen Komponisten nur vorgschlagen hat, weil seinem ästhetischen Empfinden nach seine Musik unverdaulich sei, d.h., dass Schönberg eigentlich gar kein Meister der schönen, sondern nur der schrecklichen Künste war.
Welch ein Irrtum!
Nur weil die Mehrheit mit moderner Klassik nichts anzufangen weiss, heißt das aber noch lange nicht, dass man diese Musik als Schreckgespenst missbrauchen sollte.
Außerdem gedenkt man der Opfer nicht, wenn man Menschen, gleichviel aus welchen Motiven sie an diesem Gedenken beiwohnen, etwas "zumuten" will.
Ich würde eine Gedenkfeier gut finden, in der die Musik gespielt wird, die die Juden in den Ghettos und den KZs gespielt haben, die, die sie zum Teil dort komponiert haben.

Gruß
Roithamer