Samstag, 26. Mai 2007

Die kollektive Psychose

Kontinuitäten und Transformationen des neuen Antisemitismus im postnazistischen Deutschland.

Dieser Essay erscheint im Spätsommer im Jahrbuch »Mentalities« in englischer Sprache.

Vorsatz: Keine Antisemiten, nirgendwo?

Glaubt man dem heutigen Selbstverständnis der Deutschen, so gibt es, abgesehen von einer kleinen und gesellschaftlich geächteten Randgruppe Rechtsradikaler, keine Antisemiten mehr im Lande. Die postnazistische Bundesrepublik gibt sich mit einigem Erfolg pazifistisch und antifaschistisch geläutert. Doch dies ist kritisch zu hinterfragen.

Das Vorhaben dieses Textes ist es, die Oberfläche dieses Selbstbildes, so wie es offiziell bekundet wird, zu durchdringen, einige wesentliche Chiffren herauszuarbeiten und in der Konsequenz dessen auch die Lektionen, die man aus deutscher Geschichte gelernt zu haben meint, in Frage zu stellen. Zwar ist der klassische, der völkisch-rassistische Antisemitismus tatsächlich Geschichte. Doch das antisemitische Bedürfnis ist nahezu ungebrochen geblieben. Es hat in einem neuen Antisemitismus seinen zeitgenössischen Ausdruck gefunden.

Interessant an Deutschland ist vor allem, dass mit dem Ende des Nationalsozialismus die innere und äußere Notwendigkeit, mit jeder Form des klassischen Antisemitismus vollends zu brechen, weitaus größer war, als in anderen Staaten Europas. Nur so bot sich die Chance, das deutsche Verbrechen, das auf den Tätern doch wie ein Alb drücken musste, zu entwirklichen; nur so akzeptierten die alliierten Sieger die Wiedereingliederung Deutschlands in die Zivilisation. Doch weil die alten Formen unmöglich geworden waren, prägten sich hier die neuen, noch unbelasteten Formen des Antisemitismus früher und in deutlicherer Form als anderswo aus. Deutschland wurde zum role model für den antizionistischen Antisemitismus, der sich bis heute euphemistisch als »Israelkritik« ausgibt.

In einer Umfrage der BBC vom Frühjahr 2007 äußern 77% der Deutschen, Israel habe einen negativen Einfluss auf die Welt. [1] Diese unglaublichen Zahlen werden in keinem anderen europäischen Land erreicht; selbst in der islamischen Welt weisen nur der Libanon und Ägypten ähnlich drastische Werte auf. Das sich hier aussprechende Verhältnis der Deutschen zu Israel ist von keiner Realität israelischer Politik und ihrer vernünftigen Beurteilung gedeckt. Dieses nun auf die Formel »Ressentiment« zu verdichten, reicht aber nicht hin. Nachfolgend sollen deshalb – notwendig rhapsodisch – unter Rekurs auf die Überlegungen der Kritischen Theorie, wie sie zuvörderst von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno entwickelt wurden, die Kontinuitäten und Transformationen einer kollektiven Psychose beleuchtet werden.

Stunde Null

Zum Gründungsmythos der Bundesrepublik Deutschland gehört die Behauptung, mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges habe es eine Stunde Null gegeben; nicht nur Europa, auch die Deutschen selbst wären vom Nationalsozialismus befreit worden. Mit dem Ende des Hitler-Regimes sollte geschichtsvergessen ganz neu begonnen werden. Schon aus der Rede von einer angeblichen Stunde Null, die von Vergangenem nichts mehr wissen will, und von eigener Schuld schon gar nicht, spricht offensichtlich Abwehr.

Das aus der amerikanischen Emigration nach Frankfurt am Main zurückgekehrte Institut für Sozialforschung, das seit je einen interdisziplinären Ansatz von philosophischer, soziologischer und psychoanalytischer Erörterung gesellschaftlicher Probleme pflegte, wollte in seinem ersten Projekt nach dem Kriege erfahren, in welcher politischen und moralischen Verfasstheit sich das Land befindet, in dem man es nun aufs Neue versuchen wollte. Im so genannten Gruppenexperiment wurden quantitativ und qualitativ Meinungen, Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung der gerade gegründeten Bundesrepublik zu wesentlichen gesellschaftlichen und politischen Fragen untersucht. Verschiedene Personengruppen wurden dazu angehalten, unter zurückhaltender Moderation über einen fiktiven Brief eines amerikanischen Soldaten zu diskutieren, durch den als gezielt gesetzten Grundreiz vernünftiges, autoreflexives Raisonnieren ebenso wie auch aufschlussreiche Affekte provoziert werden sollten. Diese Gespräche wurden transkribiert und eingehend analysiert. Es ging also weniger darum, dem »Ideal der Zähl- und Messbarkeit« zu genügen, als vielmehr »durch theoretische Besinnung die Daten auf den traditionellen Lebensprozess der Gesellschaft« zu beziehen, mit dem Ziel, ihn nicht zuletzt durch psychoanalytische Untersuchung zu erhellen.

Diese Arbeit, die sich in weitem Maße an der Psychologie in ihrer freudschen Gestalt orientierte und die psychosozialen Massenphänomene aus der Dynamik der einzelnen Individuen in der Gruppe – deshalb Gruppenexperiment statt Individualinterview – zu verstehen versuchte, zeigte, dass der Konformismus und die ungeheure Gewalt der Identifikationsmechanismen mit dem eigenen Kollektiv, dem nationalen, nach 1945 schier ungebrochen fortwirkten. Mechanismen wie falsche Projektion, mechanische Reaktionsbildung, verdrängtes Schuldgefühl – allesamt in der Zone der Abwehr des Unbewussten durch das Ich zu verorten, und im Widerspruch zur objektiven Realität ihren irrationalen Charakter offenbarend – machten dieses Fortwirken evident.

Theodor W. Adorno nannte seine Teilstudie deshalb: Schuld und Abwehr. Er stellte heraus: »Wenn an die Nervenpunkte der Schuld gerührt wird, wird es besonders deutlich, wie viele der Angesprochenen fast mechanisch sich eines bereits vorliegenden Vorrats von Argumenten bedienen, so dass ihr individuelles Urteil nur eine sekundäre Rolle zu spielen scheint: die eines selektiven Faktors im Verhältnis zu jenem Vorrat.«

Dieser Vorrat von Argumenten ist vielfältig: individuelle Selbstentlastung, Übertragung jeder Verantwortung an die einstigen Autoritäten, Leugnen oder Herunterspielen des damals Gewussten und des heute Wissbaren, Aufrechnung vermeintlicher Schuldkonten, Betonung des eigenen Kriegsleids, Relativierung der deutschen Kriegsschuld, Betonung der Wirkung von Propaganda und Terror etc. Auch wenn sich hier jeweils ganz unterschiedliche Ausprägungen feststellen ließen – im Gruppenexperiment wird zwischen offen nationalsozialistischen, ambivalenten und eher verständigungswilligen Personen unterschieden –, so waren doch fast ausnahmslos bei allen Beteiligten Motive der Abwehr zu erkennen.

Im sich oft aggressiv äußernden Drang der Abwehr gehen die Realitätsbezüge, geht auch die Logik der vorgetragenen Argumente in die Brüche. Dies verweist auf einen psychotischen Charakter. Durch die Dynamik in der Gruppe, in der die Diskussion über den fingierten Brief ablief, ermutigt, durchschlug der Affekt oft die rationale Kontrolle; dass Geäußerte ist dabei mitnichten ein Fauxpas, sondern vielmehr wirklich Gedachtes und im Affekt erst ungehemmt nach Außen Gebrachtes.

Das ließ Adorno schlussfolgern: »Wir dürfen von der Annahme ausgehen, dass tatsächlich eine latente Erfahrung von Schuld vorliegt und dass diese Erfahrung verdrängt und rationalisiert wird. Aber sie muss die Über-Ich-Instanzen der meisten Versuchsteilnehmer in irgendeiner Weise belasten.« Doch gerade dadurch, dass sich der Schuld nicht gestellt wurde, diese nicht in einen Prozess der kritischen Autoreflexion gebracht wurde, dauerte die Belastung unverändert an, schien jede Möglichkeit auf Katharsis unmöglich. Eine Stunde Null gab es nicht, konnte es auch gar nicht geben. Auf die unermessliche Schuld folgte nicht kritische Aufarbeitung des Vergangenen, sondern Abwehr.

Sekundärer Antisemitismus

Die beschriebene Studie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung bezieht sich auf die Zeit unmittelbar nach Gründung der Bundesrepublik. Wiewohl bis dahin mit den Nürnberger Prozessen und einer von den westlichen Alliierten erzwungenen Re-Education der Deutschen eine Entnazifizierung hätte beginnen können erste Wirkung zu zeigen, so lassen diese Bemühungen doch mit Gründung der Bundesrepublik schon nach. Um die so früh wieder souveränen Westdeutschen als Bündnispartner im Kalten Krieg zu gewinnen, wird ihnen die nationalsozialistische Vergangenheit nachgesehen; die Entnazifizierung kommt, nun Sache der Deutschen selbst, zum Erliegen. Erst in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre etablieren sich erste selbstkritische Ansätze einiger weniger, während eine Welle antisemitischer Vorfälle aus dem rechtsradikalen Milieu das Fortwirken des Nationalsozialismus evident macht. Hier nun setzt der offiziöse neue deutsche Weg ein, die sofort zum Ritual erstarrte, konsequenzlose Erinnerung an die Verbrechen in die nationale Identität zu integrieren.

Der Direktor des Instituts für Sozialforschung notiert zu dieser Zeit: »Nirgendwo in zivilisierten Ländern ist so wenig Grund zum Patriotismus wie in Deutschland, und nirgendwo wird von den Bürgern weniger Kritik am Patriotismus geübt als hier, wo er das Schlimmste vollbracht hat. Berlin, die Wiedervereinigung, die Gebiete jenseits der Oder des zu Recht besiegten Deutschlands werden zu Stimulantien der neuen patriotischen Gesinnung, die von einem unheimlichen Willen gegen inneren, ja gegen äußeren Widerspruch sich ausbreitet. Unansprechbar, weil unreflektiert und von keinem vernünftigen Grund gestützt, vom Westen schlau die Reputation erborgend, man sei ein liberales Volk, man teile die politische Geschichte mit der freien Welt, schickt man sich an, der Freiheit den nächsten Streich zu spielen. Der Kotau vor den Widerstandskämpfern, die offiziellen Absagen an den Antisemitismus, von den Synagogenbesuchen der Bürgermeister bis zum Schweigen bei Anne Frank, all dieses bereits kleinlaut und formell gewordene Schuldgetue hat bloß die Funktion, sich zum rechten Patriotismus wieder das gute Gewissen zu machen, sofern es nicht bloße Reklame für amerikanische Foundations ist. Der Patriotismus in Deutschland ist so furchtbar, weil er grundlos ist.« [2]

Im Rahmen dieser offiziösen Politik der konsequenzlosen Integration der Verbrechen in die nationale Identität wurde es jedoch zumindest schwieriger, die eigenen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus abzustreiten oder für übertrieben zu erklären. Die Verdrängung wurde zunehmend zur Unmöglichkeit. Die Zugeständnisse an die historische Wahrheit wurden aber allemal als Zumutung verstanden, und eben nicht als politische wie moralische Verantwortung zu eigen gemacht. Die Reaktionen auf diese veränderte Situation waren sehr unterschiedlich. Hartgesottene Nationalsozialisten leugneten entweder die Tatsache des Judenmordes gänzlich, oder aber sie rechtfertigten sie als notwendige Maßnahme – ganz der alten Ideologie treu bleibend. In beiden Fällen hatte das Gewissen seine Ruhe.

Die weniger Entschiedenen aber hatten und haben sich noch heute mit moralischen Problemen herumzuplagen. Sie mühten sich vor allem, die Schuld am Begangenen möglichst plausibel so zu konstruieren, dass man selbst makellos ausgeht. Das Autoritätsprinzip gestattet es, den einstigen Führen, die nun nicht mehr am Leben sind, alle Verantwortung zuzuschieben. Dies findet in Deutschland bis heute in einer auffälligen Hitler-Obsession seinen Ausdruck: Kaum ein Tag vergeht, ohne dass nicht in Radio oder Fernsehen wieder ein Betrag über ihn und seine Taten läuft, mit besten Einschaltquoten allemal: man berauscht sich am Bild des Verführers, des Verbrechers, des Dämons, der auf eine Person verdichteten Schuld. Das alter ego Hitler tritt den Deutschen so als wohlbekannter Fremder entgegen, auf den man seine Verantwortung abladen kann. Das Individuum wie das nationale Kollektiv wollen sich unbelastet sehen: In der stets vehementen Abwehr des Vorwurfs einer Kollektivschuld, der selbst dann hysterisch abgewehrt wird, wenn er gar nicht erhoben wird, flüchtet sich nicht nur der Einzelne aus der individuellen Verantwortung, sondern er rettet sogleich sein nationales Kollektiv vor der Denunziation, um sich weiter mit ihm ungebrochen identifizieren zu können.

Und doch: Jeder einzelne Jude ist nach 1945 den Deutschen eine höchst unwillkommene Erinnerung an das Verbrechen der Shoa. So entwickelte sich ein Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, den man als sekundären Antisemitismus bezeichnen kann. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex hat es auf den Punkt gebracht, als er meinte: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.«

Scham und Schuldabwehr amalgamieren sich dabei, wenn auch auf klassische judenfeindliche Äußerungen – die inzwischen außerhalb der gesellschaftlichen Opportunität liegen – verzichtet wird. Aus der Angst, sich politisch als von nationalsozialistischer Ideologie infiziert zu demaskieren, bildet sich eine innere wie äußere Zensur heraus. Deshalb kommt es spätestens seit den 1960er Jahren zu einer Transformation der Codes; und auch wenn die Ranküne sich seit je gegen einzelne Juden richtete, so kapriziert sie sich doch nun vorrangig auf Israel. Der jüdische Staat ist den Deutschen unerträgliche Erinnerung ebenso an den Judenmord wie an das Misslingen der deutschen »Endlösung der Judenfrage«. Im Gefolge des sekundären Antisemitismus entwickelt sich, wie es der österreichische Kritiker Jean Améry einmal formulierte, mit dem Antizionismus der ehrbare Antisemitismus, der gegen Israel sich richtend historisch nicht vorbelastet erscheint und darum gesellschaftlich opportun ist: »Der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar.«

Derweil gerät die Notwendigkeit der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen den Deutschen immer mehr aus dem Blickfeld; sie wird allenfalls als pflichtschuldiges Ritual absolviert, mit dem man vom Vergangenen nur schnell loszukommen gedenkt. In seinen Überlegungen Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? [3] von 1959 befürchtet Theodor W. Adorno, mit dieser Frage wäre »im Sprachgebrauch eben nicht gemeint, dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein. Sondern man will einen Schlussstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen. Der Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen zustünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es begingen.« Dabei aber bestand in der Bundesrepublik seit je weniger die Gefahr der Renaissance des Dritten Reiches, als vielmehr eines neuen, eines demokratiekompatiblen Antisemitismus. Deshalb betrachtet Adorno auch »das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.«

1968 als Chance

Die Stundentenbewegung der Jahre 1967/68 und folgend bezieht in Deutschland seine wesentliche Motivation daraus, mit der Vergangenheit, und also mit den Taten und Täterbiografien der Nazi-Generation, entschieden zu brechen. Sie bezieht Ihre Motivation auch aus dem misslungenen Versuch der Eltern, sich mittels Leugnung oder Verdrängung der Vergangenheit zu entledigen. Durch den radikal ausgetragenen Generationenkonflikt scheint es den jungen Studenten möglich, da bei ihnen von persönlicher Schuld wirklich nicht mehr die Rede sein kann, sich von den Verbrechen zu exkulpieren und die historische Schuld den Alten zuzuweisen.

Doch diese historische Chance wird zum historisches Versagen: Mit dem öffentlich vollzogenen Bruch zur Nazi-Generation dispensiert man sich zugleich vom geschichtlichen Erbe und der politischen Verantwortung. Man will von der Vergangenheit loskommen, indem man sie den Alten zuordnet, ohne sich selbst und die eigenen politischen Grundfesten in Frage zu stellen. Sich dabei emanzipatorisch und antifaschistisch zu geben, taugt nicht nur als Affront gegen die Alten, es ist auch probates Mittel zur Befriedung des eigenen Gewissens und Voraussetzung der eigenen Enthemmung. Der symbolische Bruch mit den Eltern ist keiner mit der antisemitischen Kontinuität, und deshalb auch erledigt die neue deutsche Linke schon im Entstehen jeden kritischen Begriff von Emanzipation und Antifaschismus. Mit der Neuen Linken entsteht auch ein Neuer Antisemitismus.

Am 9. November 1969, dem Jahrestag der Pogromnacht von 1938, tickt im Foyer des jüdischen Gemeindehauses in Westberlin eine Bombe. Sie explodiert nur aufgrund eines technischen Defektes nicht. Die Bombeleger nennen sich Tupamaros, sie sind eine linke Gruppe im Gefolge der Studentenbewegung; einer ihrer Masterminds ist der damals in der Linken höchst populäre Kommunarde Dieter Kunzelmann. Von ihm stammt das Verdikt: »Palästina ist für die BRD und Europa das, was für die Amis Vietnam ist.« Die Bombe ist der erste militante Höhepunkt des neuen, des antizionistischen und linken Antisemitismus. Mit ihr entstellt sich die deutsche Studentenbewegung bis zur Kenntlichkeit.

Der Düsseldorfer Historiker Ralf Balke hat in einem Essay über die Genossen Judenhasser resümiert: »Antizionismus und Palästina-Solidarität waren offiziell die Motive, doch anhand der Sprache Kunzelmanns, der immer wieder gerne von ›Scheißjuden‹ und ›Saujuden‹ sprach, kann dies wohl nur als Camouflage eines virulent antisemitischen Weltbildes gedeutet werden ... Palästina gleich Vietnam, Faschismus gleich Zionismus, Israel gleich ›Drittes Reich‹ und Al-Fatah gleich Antifaschismus – so lauteten damals die Zauberformeln der Tupamaros West-Berlin, die aufgrund ihrer Griffigkeit und Simplizität offensichtlich eine verheerende Faszination auf Teile der deutschen Linken ausübten. Aber noch viel mehr. Sie beinhalteten darüber hinaus nämlich auch das Angebot, sich vom ›Judenknax‹, wie es Kunzelmann immer wieder nannte, dem Schuldgefühl für die von den Deutschen begangene Vernichtung des europäischen Judentums, zu befreien.« [4]

Einige deutsche Linke fanden über die Ausbildungscamps von Arafats Al-Fatah-Bewegung ihren Weg in den Terrorismus. 1976 entführt ein deutsch-palästinensisches Kommando eine Air France Maschine nach Entebbe. Wilfried Böse, Anführer der Revolutionären Zellen, unternimmt dabei an Bord die erste von einem Deutschen durchgeführte Selektion zwischen Juden und Nichtjuden seit dem Zweiten Weltkrieg.

So sehr es in den Post-68er Linken grundsätzliche Kritik an der Militanz gab, so war der antizionistische Antisemitismus selbst kaum Grund zum Dissens. Mit dem Sechs-Tage-Krieg hatte sich bei den rebellierenden Studenten längst der scheinrationale Grund gefunden, sich vehement, inbrünstig moralisch und aus vorgeblich antifaschistischen Motiven gegen den jüdischen Staat wenden zu können.

Der Politikwissenschaftler Stephan Grigat beschreibt in einem Aufsatz über das Verhältnis von Kritischer Theorie und Zionismus die Reaktionen Adornos auf diese Entwicklung: »Am 5. Juni 1967, dem, Tag des Ausbruchs des Sechs-Tage-Krieges, schrieb Adorno an seine Wiener Freundin Lotte Tobisch: ›Wie machen uns schreckliche Sorgen wegen Israel ... Man kann nur hoffen, dass die Israelis einstweilen immer noch militärisch den Arabern soweit überlegen sind, dass sie die Situation halten können.‹ ... Zwei Jahre später war Adorno vom Niederbrüllen des israelischen Botschafters in Frankfurt durch deutsche linke und arabisch-nationalistische Studenten dermaßen entsetzt, dass er in einem Brief an Herbert Marcuse gar von der Gefahr eines Umschlagens der Studentenbewegung in Faschismus sprach.« [5]

Der Sechs-Tage-Krieg wurde zum Vorwand der pro-palästinensischen Wende der deutschen Linken; die Studentenbewegung selbst ermöglichte den ersten Höhepunkt des Neuen Antisemitismus in Deutschland. Er trat mit antifaschistischem, progressivem Gestus auf und behauptete, kein Judenhass mehr zu sein. Der Jude war nun vielmehr ein Jude unter den Staaten, wie es Hannah Arendt einmal formulierte: Israel.

Germany reloaded

Die antiisraelische Stimmung in Deutschland, bei der allenfalls noch gönnerhaft das Existenzrecht Israel eingeräumt wird, um sogleich Israels Verteidigung gegen den militarisierten Judenhass von Hamas bis Hisbollah in den Kategorien »Menschenrechtsverletzungen«, »Massaker« oder auch »Vernichtungskrieg« zu beschreiben, hat sich nicht zuletzt in den letzten Jahren verfestigt, da die Generation der 1968er die kulturelle und politische Hegemonie erlangte.

Dabei wirkten die Zweite ›Intifada‹, Nine-Eleven und der War on Terror als Katalysator für das antisemitische Ressentiment, das sich immer schon im postnazistischen Deutschland mit dem antiamerikanischen amalgamierte. Paul Spiegel, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, bemerkte 2002 ungewöhnlich undiplomatisch: »Anstatt gegen Antisemitismus zu mobilisieren – was hier zu Lande tatsächlich etwas Neues wäre –, wird in Sachen Feindmarkierung eher der Schulterschluss mit den Antisemiten praktiziert.«

Die jüngste deutsche Geschichte ist aber nicht nur von einer Verfestigung der antiisraelischen Stimmung gekennzeichnet. Um den als ›Israelkritik‹ daherkommenden Antisemitismus moralisch weiterhin zu legitimieren, werden erheblich Anstrengungen unternommen, sich als vom klassischen Antisemitismus, mithin vom Nationalsozialismus geläutert darzustellen. Beton gewordener Ausdruck dieser Bemühung ist die Errichtung des 2005 eröffneten Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas: auf einer Fläche von 19.000 Quadratmetern sind 2.711 Betonquader in parallelen Reihen aufgestellt. Der damalige Bundeskanzler Schröder wünschte sich seinen »Ort, an den man gerne geht«, und gab so seiner Unbekümmertheit ob der deutschen Vergangenheit Ausdruck. Schröder durchbrach für einen Moment die liturgisch gewordenen Bekenntnis- und Verantwortungsrhetoriken deutscher Erinnerungspolitik und hat in seiner Fehlleistung Ehrlichkeit walten lassen.

Ferner müht man sich in Deutschland beinahe zwanghaft um ein unverkrampftes Verhältnis zur eigenen Nation. Ausdruck dieser Bemühungen um die bruch- und damit notwendig geschichtslose nationale Identifikation war die Kampagne im Jahre 2005 mit dem Titel »Du bist Deutschland«. Dutzende deutsche Unternehmen unter Federführung des Medienkonzerns Bertelsmann meinten: »Die Deutschen plagt eine kollektive Depression. Damit soll Schluss sein.« und plakatierten und sendeten für dreißig Millionen Euro nationale Wohlfühlpropaganda.

Und schließlich sind mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Nationalsozialismus auch die Bemühungen weitestgehend erfolgreich gewesen, die Shoa zu historisieren und sich damit auch von individueller und politischer Verantwortlichkeit – nicht nur für Vergangenes, sondern auch für Heutiges – zu dispensieren. Wohl kommt man an den Fakten der Vergangenheit lang nicht mehr vorbei; doch was sich schon im Gruppenexperiment abzeichnete, wirkt heute, zwei bis drei Generationen später, noch immer fort. Der Sozialpsychologe Harald Welzer veröffentlichte 2002 eine Studie über Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis unter dem bezeichnenden Titel: »Opa war kein Nazi« [6]. Er unterstreicht den Unterschied zwischen kognitivem Geschichtswissen, wie es beispielsweise in den Schulen vermittelt wird, dass vor allem ein Faktenwissen ist, und emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit, die sich intergenerationell tradieren, und die eher als das kognitive Wissen dazu angetan sind, selbstreflexive Fragen individueller Moral und politischer Einstellungen zu motivieren. Welzer stellt fest: »Paradoxerweise scheint es gerade die gelungene Aufklärung über die Verbrechen der Vergangenheit zu sein, die bei Kindern und Enkeln das Bedürfnis erzeugen, die Eltern und Großeltern im nationalsozialistischen Universum des Grauens so zu platzieren, dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt.«

Es soll also dem Bedürfnis entsprochen werden, die Verbrechen der Nazis und die moralische Integrität innerhalb des eigenen Kollektivs, wenigstens innerhalb der eigenen Familie, zu vereinbaren. Indem die gesamte Verantwortlichkeit für Krieg und Shoa einer kleinen Clique um Hitler zugewiesen wird, wird es einfach, seine Eltern und Großeltern von der Täterschaft freizusprechen, und gar zu Opfern zu stilisieren: Opfer von Krieg, Vergewaltigung, Gefangenschaft, Mangel und Not. Wer so sehr Opfer ist, kann kein Täter gewesen sein. In diesen Narrativen verschwinden die eigentlichen Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen; sie tauchen allenfalls dann auf, wenn die Alten als deren Beschützer oder gar Retter inszeniert werden. Harald Welzer resümiert, dass Opferkonstruktionen und Umkehrungen der historischen Täter- und Opferrollen im so genannten Familiengespräch eine dominante Rolle spielen, wobei die historische Wahrheit zumeist anders aussieht.

In den Erzählungen von deutschem Leiden tauchen zunehmend Bilder auf, die aus dem Kontext der Shoa stammen: Lager, Leichenhaufen, verhungernde Gefangene, Stacheldraht... Diese höchst emotionsgeladenen Bilder aber werden von ihrem Entstehungszusammenhang sukzessive abgelöst, stehen als ›Ikonen der Vernichtung‹ als Synonym für ein unspezifisches, unsägliches Grauen. Sie werden in den Viktimisierungsgeschichten der Deutschen neu kontextualisiert; mit ihnen werden auch die durch sie evozierten Emotionen umgelenkt. Die Leiden der Juden in der Shoa, ja die jüdischen Opfer selbst, werden so derealisiert.

Die Historisierung der Shoa, die Neubewertung von Geschichte im Gefolge der Täter-Opfer-Verkehrung, die De- und Re-Kontextualisierung der Bilder der Shoa: dies alles wird befördert von öffentlichen und medial inszenierten Debatten, in denen bspw. die ›Flucht und Vertreibung der Deutschen‹ oder der ›Bombenterror gegen die Deutschen‹ in den Mittelpunkt gestellt werden. Doch bleibt immer noch ein Rest lastenden Gewissens im Gefolge der Befreiung von Verantwortung aus Geschichte. Eben deshalb wird auf Israel abgezielt, werden bspw. die ›Flucht und Vertreibung der Palästinenser‹ oder der ›Bombenterror gegen die Palästinenser‹ behauptet. Es offenbart sich das wahnhaft-projektive Moment, die Nazi-Vergangenheit dem heutigen Israel anzudichten um in Form der Zionisten mit den Juden abzurechnen.

Die Grenzen der Aufklärung

Im Jahre 1946 erschien in den Vereinigten Staaten ein Sammelband [7], der erst mit 47 Jahren Verspätung auch in Deutschland einen Verleger fand [8]; dabei waren doch die Autoren fast ausnahmslos einst emigrierte deutsche Juden, und das Thema war ein deutsches: »Anti-Semitism. A Social Desease«. Dieses Buch ist ein historisches Dokument, da kritische Theoretiker hier den klassischen, den rassistischen Antisemitismus ins Visier nehmen. Das Buch ist aber zugleich eine aktuelle Anregung, den psychoanalytischen Ansätzen nachzugehen, die auch den neuen, den antizionistischen Antisemitismus zu erhellen vermögen, um nicht gänzlich ohnmächtig vor dem sich Abzeichnenden verharren zu müssen.

Denn hier schärft Ernst Simmel, ein Schüler Freuds, das Bewusstsein dafür, dass der Antisemitismus »die Manifestation eines pathologischen seelischen Prozesses« ist. Heute noch stellt sich die Frage: Welche irrationalen und emotionalen Bedürfnisse haben die Einzelnen, wie werden diese familiär, kollektiv und gesellschaftlich produziert und reproduziert? Dass zumal aus deutscher Geschichte – individuell und kollektiv – sich viel Psychotisches ergibt, liegt auf der Hand. Simmel erinnert: »Die psychoanalytische Erforschung der Charakterbildung hat uns gelehrt, dass irrationale Ideen in Verein mit irrationalen Handlungsimpulsen dem Bedürfnis des Individuums dienen, eine pathologische Störung zu überwinden, und sein seelisches Gleichgewicht wieder zu finden.«

Max Horkheimer warnt: »Ein bloßer Appell an den bewussten Geist genügt nicht, weil Antisemitismus und antisemitische Propaganda dem Unbewussten entspringen.« Heute nun wissen wir: Re-Education und Holocaust-Education haben zwar ein umfassendes kognitives Geschichtswissen produziert, und dennoch ist der Wahn längst nicht gebrochen. Die Möglichkeiten der Aufklärung, das Insistieren auf Vernunft, das Erinnern an Vergangenes – dies alles scheint erschöpft. Und es ist ebenso hilflos, gegen den antizionistischen Antisemitismus vor allem mit Fakten argumentieren zu wollen. Denn der antisemitische Wahn schert sich nicht um Fakten.

Zu verstehen ist vielmehr, dass die Deutschen sich heute in der zweiten und dritten Generation nach den Tätern immer noch in einer höchst problematischen Lage befinden: Ein kritischer, selbstreflexiver Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat nie stattgefunden, vielmehr hat man Strategien versucht, zu verdrängen und zu verleugnen, zu ritualisieren und zu historisieren, sich selbst stets aus der konkreten Verantwortung zu nehmen. Der erfolgreichen Tabuierung des Nationalsozialismus steht das ganz Unaufgearbeitete gegenüber: Dies aber hat die Transformation des delegitimierten rassistischen in einen opportunen antizionistischen Antisemitismus in Gang gesetzt.

Und Otto Fenichel betont in seinem Aufsatz über die Elemente einer psychoanalytischen Theorie des Antisemitismus, dass Menschen stets bereit sind, »Hinweise und Vermutungen für wahr zu halten, die ihnen irgendeinen Vorteil bringen.« Die pazifistische Läuterung der Deutschen – »Nie wieder Krieg!« – und der antifaschistische Gestus – »Nie wieder Faschismus!« – kulminieren heute im unausgesprochenen aber politisch vollzogenen Dogma »Nie wieder Krieg gegen Faschismus!« Aus der antiisraelischen Propaganda ist dabei sehr wohl ein Vorteil zu ziehen: das pazifistische, das antifaschistische und das antisemitische Bedürfnis werden zugleich befriedigt. Das Schreiten zur Tat wird den brothers in crime, den bewaffneten islamistischen Rackets überlassen; das eigene Gewissen bleibt abermals unbeschwert.

Aus diesen Überlegungen ist wohl kaum ein positiv bestimmtes politisches Programm ableitbar. Doch auch wenn die Aufklärung des Antisemiten selbst seine Grenzen hat, so wäre eine kritische Aufklärung über den Antisemitismus ein notwendiger Wissensfortschritt. Die Anstrengung des Begriffs darf nicht bei den Phänomenen selbst enden; jede Intervention geht nämlich fehl, wenn sie nicht sowohl auf den Antisemitismus als kulturell und gesellschaftlich tradiertes Problem in seinen Kontinuitäten und Transformationen reflektiert, als auch die sich darin manifestierende kollektive Psychose zu ergründen versucht.

Eine solche Aufklärung wäre auch ein notwendiger Naivitätsverlust. Wie eingangs schon erwähnt: 77% der Deutschen glauben, Israel habe einen negativen Einfluss auf die Welt. Deutschland – mehr als 60 Jahre nach Kriegsende, ist weit davon entfernt, die eigene Vergangenheit kritisch reflektiert und den Antisemitismus in allen, erst recht den modifizierten Formen abgelegt zu haben. Zwar glauben die Deutschen tatsächlich, keine Antisemiten, sondern ›Israelkritiker‹ zu sein. Doch die Realität ist eine andere: Im Neuen Antisemitismus findet Deutschland zu alter Form.

[1] BBC World Service Poll: Israel and Iran share the most negative ratings in global poll.

[2] Max Horkheimer: Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland.
Frankfurt am Main.: S. Fischer Verlag, 1974

[3] Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften Band 10.2, Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977

[4] Ralf Balke: Genosse Judenhasser

[5] Stephan Grigat: Befreite Gesellschaft und Israel. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Zionismus. in: Stephan Grigat (Hg.): Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus. Freiburg: ça-ira-Verlag 2006

[6] Harald Welzer, Sabine Moller, Karoline Tschugnall: »Opa war kein Nazis«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer, 2002

[7] Ernst Simmel (ed.): Anti-Semitism. A Social Desease. New York/Boston: International Universities Press, 1946

[8] Ernst Simmel (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt: Fischer, 1993

1 Kommentar:

Grigori Pantijelew hat gesagt…

Könnte man prüfen, ob die Zuweisung eines Zitats stimmt?
"ein Jude unter den Staaten, wie es Hannah Arendt einmal formulierte: Israel"
War es nicht Leon Poliakov?
Ansonsten: Ausgezeichnet!